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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wahrheit kennt!«
    »Mein Vater und Evelina sind noch da oben«, rief Max und rannte weiter. Sina folgte ihm.
    Die ersten Arbeiter setzten sich in Bewegung und liefen auf den Tunnel zu, der von der Seitenwand der Halle ans Tageslicht führte. Der Motor eines Lastwagens jaulte auf, als jemand in Panik das Gas zu weit durchtrat. Das Fahrzeug ruckte vor und prallte gegen drei Männer, die gerade auf die Tunnelmündung zueilten. Ein Tumult entstand, als andere über die Verletzten hinwegstürmten.
    Eine weitere Explosion ertönte. Wie eine Flutwelle schossen Staub und Steinpartikel aus der Tunnelmündung, den Flüchtenden entgegen, hüllten sie in Dunkelheit.
    Auf den Donner folgte ein Moment völliger Stille.
    Manchem mochte klarwerden, daß er nicht einmal wußte, wovor er die Flucht ergriff. Die meisten aber erwachten einen Augenblick später aus ihrer entsetzen Erstarrung und rannten weiter, hustend und keuchend, mitten in die Staubwolke hinein, in der schalen Hoffnung, am Ende des Tunnels doch noch einen Ausweg zu finden.
    Max und Sina erreichten die unteren Stufen der Treppe, die zur Balustrade hinaufführte.
    Dominik packte seinen Vater und schrie ihn an, irgendein Vorwurf, der im ohrenbetäubenden Lärm unterging.
    Max sprang bereits die Treppe hinauf, doch Sina blieb unten stehen, drehte sich um und brüllte: »Dominik! Komm her!«
    Oben auf der Treppe wirbelte Max herum. »Bist du verrückt geworden?« Zorn loderte über seine Züge.
    »Ohne ihn kommen wir hier nicht raus«, gab sie scharf zurück und rief abermals Dominiks Namen.
    Zacharias schüttelte die Hände seines Sohnes ab und drehte sich abermals zur Höhle um.
    Irgend etwas kommt näher, dachte Sina zum zweiten Mal.
    »Dominik, verdammt!« schrie sie über das Chaos der flüchtenden Arbeiter hinweg. Irgendwo in dem grauen Staubnebel, der durch die Halle wogte, bellten Schüsse. Mündungsfeuer blitzten auf, jemand kreischte gequält; Sina konnte nicht erkennen, ob beide Laute zusammengehörten, auch nicht, wer aus welchem Grund auf wen schoß. Es war längst gleichgültig. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, daß das, was ihnen allen bevorstand, alle anderen Sorgen auslöschen würde.
    Dominik stand da, unentschlossen, ob er bei seinem Vater bleiben oder fliehen sollte. Er hörte Sinas Rufe, schaute gar zu ihr herüber, wandte seinen Blick aber gleich darauf zurück zu Zacharias.
    Einige Soldaten bemühten sich, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie waren es auch, die versuchten, mit Waffengewalt die Panik der Arbeiter einzudämmen. Daß sie damit alles nur noch schlimmer machten, wurde ihnen zu spät bewußt.
    Etwas regte sich im Schlund der Höhle. Helligkeit quoll aus der Dunkelheit empor.
    Im Gegenlicht erschien eine Gestalt. Mit ungelenken Bewegungen taumelte sie durch den Felsbogen, dürr und mager vor dem gleißenden Weiß, wie die Rohform einer Marionette.
    Die Gestalt trug eine Kutte.
    »Sieht aus wie ein Priester«, flüsterte Max gebannt, als Sina ihn am oberen Ende der Treppe erreichte.
    Der Tumult der Menschenmasse schlug in zwei Extreme um. Die einen begannen noch lauter und durchdringender zu kreischen und auf den Eingang des gesprengten Tunnels zuzustürmen; die anderen aber verharrten dort, wo sie sich gerade befanden, und starrten mit aufgerissenen Augen zu der Gestalt hinüber. Einige Soldaten hantierten erneut an ihren Waffen. Sie sahen nervös genug aus, sie zu benutzen, bis Zacharias ihnen mit einer Geste Einhalt gebot.
    Die Kutte des Priesters war grau und farblos. Der Lichtschein aus der Höhle legte einen Kranz aus Helligkeit um seine Glieder. Auf der Brust prangte ein eingesticktes Kreuz, darüber quoll ein grauer Bart. Seine nackten Füße steckten in primitiven Sandalen. Graues, strähniges Haar fiel bis weit über seine Schultern, verdeckte sein Gesicht wie ein Vorhang aus Spinnweben.
    Seine Schritte wurden allmählich sicherer, seine Haltung festigte sich. Durch das Halblicht der Halle kam er direkt auf Zacharias zu. Wortlos schleppte er sich durch den Korridor der übriggebliebenen Soldaten, an dessen Ende der Alte stand und ihn mit betonter Ruhe erwartete. Einige der Wissenschaftler drängten zwischen den Uniformierten hindurch, um sich dem Priester zu nähern, aber Zacharias winkte sie mit knappen Gesten zurück. Jede seiner Handbewegungen schuf Strudel im Staubnebel.
    Noch zehn Meter trennten sie voneinander. Die knochigen Hände der Gestalt, auch ihre Kutte, glänzten fettig.
    »Dominik, nun mach schon!«

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