Hex
Zwerg. Irgendwem muß er aufgefallen sein. In irgendeinem Zusammenhang.«
Der Archivar, ein grauhaariger, hagerer Mann, dessen Gesicht von Muttermalen übersät war, stützte sich ihr gegenüber auf die Tischplatte. »Sie wissen, wie das mit diesen Kerlen ist. Tauchen aus dem Nichts auf, veranstalten ein paar Zirkel und Beschwörungen, kassieren ab und verschwinden wieder.«
»Aber seine Größe...« Sina blieb beharrlich. »Ich hab’ das Gefühl, daß ich schon mal was über ihn gelesen habe.«
»Warum sind Sie eigentlich so versessen auf ihn?«
»Dafür werde ich bezahlt«, gab sie mit sprödem Lächeln zurück.
Karel schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Weshalb gerade er?«
Sie suchte noch nach einer Antwort, als Karels Gesichtsausdruck sich schlagartig änderte. Sein Mund klappte auf. Sina holte tief Luft, sie wußte, was als nächstes geschehen würde.
Völlig unvermittelt begann Karel zu singen. Mit der Stimmgewalt eines Troubadours schmetterte er eine Opernarie. Der Gesang mußte im ganzen Haus zu hören sein.
»Karel!« rief Sina aufgebracht, aber sie wußte, daß es nichts nützen würde.
Mit dem Archivar hatte es eine ganz besondere Bewandtnis (und nicht wenige behaupteten, gerade das sei der Grund, weshalb man ihn ausgerechnet zum Hex abgeschoben hatte). Karel behauptete, er habe einen bösartigen Tumor am Kehlkopf. Nachdem die Ärzte ihm klargemacht hatten, daß jede Behandlung aussichtslos sei, hatte er beschlossen, sich mit dem Parasiten in seinem Körper abzufinden. Karel behauptete, er sei in sich gegangen und habe seinen Frieden mit dem Tumor gemacht; nun aber ergreife das Geschwür gelegentlich Besitz von seinen Stimmbändern und bringe ihn dazu, Dinge auszusprechen oder, schlimmer noch, zu singen, ohne daß er selbst darauf Einfluß habe.
Manche hielten ihn schlichtweg für verrückt, ein krankhafter Wichtigtuer, sagten sie, der sich aufspielte und anderen auf die Nerven fiel. Sina aber, die an und für sich wenig Verständnis für Launen und Verschrobenheiten zeigte, seit sie ihre eigenen aufgegeben hatte, machte bei dem Archivar eine Ausnahme. Sie waren nicht wirklich befreundet, aber auf eine seltsame Weise erschien er ihr liebenswert. Vielleicht verstanden sie sich deshalb so gut, weil sie eine der wenigen, vielleicht gar die einzige Agentin des Hex war, die ihre Arbeit ernst nahm. Während eines seiner Anfälle hatte Karel einmal mit seiner hellen Krebsstimme zu ihr gesagt: ›Du glaubst es, nicht wahr? Du glaubst wirklich an diese Dinge.‹ Sie hatte nicht geantwortet, denn sie weigerte sich, mit einem Tumor zu sprechen. Und als Karels Stimme wieder zu seiner eigenen geworden war, da war es, als hätte er sich an seine Worte nicht mehr erinnern können. Sie hatten nie wieder über Glauben und Überzeugung gesprochen, aber seither schien zwischen ihnen eine stille Übereinkunft zu bestehen. Denn auch Karel, davon war sie überzeugt, glaubte an die Existenz des...
»Sina!« Jemand stand hinter ihr und rief ihren Namen.
Karels Stimme schraubte sich höher, sein Gesang dröhnte ohrenbetäubend durch den Speicher. Sina fuhr herum und entdeckte Max, der an der Tür stand und ihr zuwinkte.
»Was ist los?« brüllte sie und versuchte, Karels Arie zu übertönen.
Max machte zwei Schritte auf sie zu, blieb dann aber stehen, als fürchtete er, seine Trommelfelle könnten Schaden nehmen, käme er noch näher an den verrückten Sänger heran.
»Der Alte will uns sprechen«, rief er.
»Uns beide gemeinsam?« Das war eigenartig. Sie hatte eher erwartet, daß Zacharias sie und Dominik zu den Ereignissen im Atelier befragen würde. Aber Max? Was hatte sie mit Max zu schaffen? Es war selten, daß zwei Agenten gemeinsam für einen Auftrag abgestellt wurden, und bislang war es ihm gelungen, sich um alle größeren Aufgaben herumzudrücken.
Sie stand auf und warf einen letzten Blick auf Karel. Der Archivar stand mit ausgebreiteten Armen hinter dem Aktenberg, die Augen geschlossen, den Mund weit aufgerissen. Sein Gesang schwoll auf und ab.
Als sie mit Max durch die Tür ins Treppenhaus trat, herrschte auf einen Schlag Ruhe. Sie drehte sich um.
Karel blickte ihr nach.
»Komm wieder«, zischte seine Krebsstimme schneidend. »Komm wieder, kleine Sina.«
Max nahm sie kopfschüttelnd bei der Hand und zog sie mit sich. Sina spürte es kaum. Sie hörte nur die Stimme. Sie wußte, daß sie sich täuschte – aber für einen Augenblick war es ihr vorgekommen, als klinge sie wie die eines
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