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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Unterstützung in dieser Sache angewiesen war (obgleich sie es wahrscheinlich, genauso wie er selbst, besser wußten). Zum anderen hatte er feststellen wollen, ob er überhaupt noch in der Lage war, einen Menschen zu töten, den er nicht kannte und der ihm nichts bedeutete. Nach all den Jahren war er dessen nicht mehr sicher gewesen.
    Entgegen seiner Befürchtungen hatte er die Probe mit Bravour bestanden. Das Ganze war ein Kinderspiel gewesen, einschließlich der falschen Spuren. Manche Dinge verlernte man nicht, wie Fahrradfahren. Sein Ruf war nicht nur gerettet, er war berechtigt.
    Dafür hätte er frenetischen Jubel verdient, dachte er und lächelte.
     
    Die Lautsprecher in der Abflughalle stießen das Manövriersignal aus. Lang – kurz – kurz – lang. Der fahrbare Ankermast auf dem Flugfeld zog die Polar in gemächlichem Tempo aus der Halle. Majestätisch schob sie sich ins Freie, während die Zurückbleibenden, unter ihnen Dominik und Angehörige der mitreisenden Forscher, ihr gebannt hinterherblickten. Erst nach einigen Minuten durften auch sie die Halle verlassen und ins Sonnenlicht treten.
    Die Verbindung des Luftschiffs zum Heckwagen wurde gekappt. Die gigantische Konstruktion hob sich mit trügerischer Leichtigkeit vom Boden, nur wenige Meter hoch, und schwenkte in Windrichtung. Die Bodenmannschaft löste die letzten Seile und die Kette zum Ankermast. Innerhalb kürzester Zeit stieg die Polar in den Himmel empor, bis sie bei zweihundert Metern ihre Fahrhöhe erreichte. Mit einem Wummern begannen die Motoren zu laufen, die Propeller rasten los. Ein letztes Mal streifte der Schatten des Schiffes die Zuschauer auf dem Flugfeld, dann entfernte es sich in nördliche Richtung.
    Zwischen den Männern und Frauen, die dem Zeppelin nachblickten, stand ein Leierkastenmann und spielte eine fröhliche Melodie. Sein Gesicht war geschminkt wie das eines Clowns, weiß und rot und blau, und über seine rechte Wange rollte eine aufgemalte Träne. Auch seine Augen waren auf das Luftschiff gerichtet, und Wehmut überkam ihn für einige Sekunden. Auf seinem buntverzierten Instrument hockte ein kleiner Plüschaffe mit ausgestreckten Händen, die eine Zinkschale hielten. Der eine oder andere der Zuschauer warf ein paar Pfennige hinein, aber es war wenig, was so zusammenkam. Auch Dominik Zacharias ging vorbei, ohne etwas hineinzulegen. Seine Gedanken waren hoch oben in der Luft, bei der jungen Frau, die er eben umarmt hatte.
    Der Leierkastenmann blickte ihm nach, als er zum Ausgang des Flugfeldes ging, dann schaute er noch einmal zum Himmel hinauf, wo die Polar immer kleiner wurde. Er kannte Dominik Zacharias, und er kannte Sina Zweisam und Maximilian von Poser. Er wußte, was ihnen allen bevorstand, und er fragte sich, ob eine schwermütige Melodie nicht passender gewesen wäre.
    Schließlich ließ er die Kurbel ruhen und schob seinen Kasten an der Halle vorbei zum Ausgang. Das Geld in der Schale bedeutete ihm nichts. Als er am Tor des Flughafens einem Bettler begegnete, nahm er die Münzen und drückte sie ihm in die Hand, ohne hinzuschauen und gänzlich in Gedanken.
    Er sah, wie Dominik Zacharias in einem knallroten Automobil davonfuhr.
     
    Die Bombe explodierte in einer menschenleeren Seitenstraße und riß den roten Wagen in Stücke. Sanitäter entdeckten die angekohlten Papiere des Leichnams und vermerkten seinen Namen auf einem Klemmbrett.
    Es war Ella, die Sekretärin, die den alten Zacharias schließlich zur Charité fuhr, in deren Pathologie man den Körper gebracht hatte. Auf dem Weg dorthin versuchte sie dem Alten immer wieder Mut zu machen, redete auf ihn ein, daß ein Fehler vorliegen müsse, daß es ganz sicher nicht Dominik sei, der in dem Wagen ums Leben gekommen war. Aber Zacharias, der nie in seinem Leben ein Automobil gesteuert hatte und in seinem Alter auch nicht mehr damit anfangen wollte, schwieg nur verbissen und blickte starr nach vorne auf die Straße. Ella sah, daß Tränen in seinen Augen blitzten, und der Anblick ihres Vorgesetzten, wie er das Weinen unterdrückte, machte sie schwindelig vor Mitgefühl. Liebe Güte, Dominik! dachte sie. Es durfte nicht sein. Es war ein Irrtum, ganz bestimmt.
    Ein Assistenzarzt führte sie in die Katakomben der Charité, wo grüngekleidete Pathologen schweigsam und mit hochgezogenen Gesichtsmasken über die Gänge eilten wie Wesen aus einer anderen Welt. Es war eiskalt hier unten, doch selbst die Kälte konnte den Geruch nach Tod und Spiritus nicht

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