Hex
unterdrücken.
Vor einer Doppeltür mußte Ella zurückbleiben, während Zacharias ins Allerheiligste der Klinikkeller trat. Es war ein Weg, den niemand ihm abnehmen konnte, und Ella war insgeheim erleichtert, daß sie draußen warten mußte. Der Anblick des zerrissenen Leichnams wäre zuviel gewesen.
Ihr reichte schon die Erinnerung an Dominik, wie er heute früh mit Max und Sina die Villa verlassen hatte. Das strahlende Lächeln, das immer ehrlich war. Der blonde Haarschopf. Die hübschen Augen, die selbst dann noch Ruhe ausstrahlten, wenn er hektisch durchs Büro wirbelte. Sie hätte niemanden im ganzen Hex nennen können, der Dominik nicht mochte. Über ihn war nie ein schlechtes Wort gefallen. In den ganzen drei Jahren nicht.
Über der Doppeltür hing eine Uhr. Ella konzentrierte sich auf die Zeiger. Sie ertappte sich dabei, wie sie fast begierig auf das nächste Schnappen des Minutenzeigers wartete. Darauf, daß etwas geschah. Irgend etwas.
Der Gang war jetzt völlig verlassen. Die grünbekittelten Gestalten hatten sich in ihren Leichenhöhlen verkrochen. Irgendwo, in der Ferne eines unterirdischen Korridors, kreischten Metallräder über Bodenkacheln. Einmal schepperten Blechschalen. Ella zuckte zusammen, als ein leiser Aufschrei ertönte; jemand mußte sich beim Öffnen eines Korpus geschnitten haben.
Der Minutenzeiger ruckte weiter. Noch einmal. Und wieder.
Ella dachte an ihren Geburtstag, als Dominik ihr Blumen mitgebracht hatte. Und an den Morgen, als sie ihm versehentlich Kaffee über die Hose gekippt hatte. Sie sah ihn auch in einem seiner Automobile vor der Hex-Villa vorfahren und ausgelassen den Balg des Signalhorns drücken. Manchmal hatte er das getan, um allen einen guten Morgen zu wünschen.
Er war so jungenhaft, so amüsant, so spielerisch. Ella war zwölf Jahre älter als er, aber sie erinnerte sich noch zu gut an jene Jahre ihrer Jugend, als Männer wie er ihr einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt hatten. Sie war verheiratet, in gewisser Weise glücklich, und sie hätte nicht im Traum daran gedacht, sich um seine Zuneigung zu bemühen. Und doch hatte die Vorstellung etwas Angenehmes.
Sie erinnerte sich an Max, Dominiks besten Freund. Sollte man ihm mitteilen, was geschehen war? Vielleicht war es besser, wenn er es erst nach seiner Rückkehr erfuhr.
Was erfuhr? Dominik war nicht tot. Sie weigerte sich, das zu akzeptieren. Der Wagen war explodiert, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht war es unmöglich, die Leiche zu identifizieren, selbst für einen Vater. Dann gab es noch Hoffnung.
Als der Zeiger zum neuntenmal weiterzuckte, wurde die Doppeltür sachte geöffnet. Zacharias’ Anblick traf Ella wie ein Schlag. Er ging gebeugt, was sie immer für unmöglich gehalten hatte, und er schluchzte wie ein kleines Kind, so herzzerreißend, so verzweifelt. Das war nicht mehr der Mann, den sie bisher gekannt hatte.
Sie sprang auf und legte ihren Arm um seine Schultern. Widerspruchslos ließ er sich von ihr hinausführen. Dabei weinte er leise, und auf dem ganzen Weg nach Hause sprach er nicht ein einziges Wort mit ihr.
Im Speicherarchiv der Villa war es stickig, trotz der geöffneten Dachluken. Darunter tanzten Staubwolken im Sonnenschein. Es roch nach altem, vergilbtem Papier, nach Tee und dem Kautabak des Archivars. Karel Haaf stand an einem seiner Regale und sortierte Aktenordner und Bücher, die jemand in seiner Abwesenheit benutzt und in Unordnung gebracht hatte. Eigentlich war das unmöglich, denn er verließ den Speicher nur zum Schlafen. Er lebte für dieses Archiv, für das Hex, für das, was es ihm bedeutete. Wenn es jemandem gelungen war, unbemerkt in seinen Schätzen zu stöbern, dann konnte das nur bei Nacht geschehen sein. Aber nachts war außer dem Wächter am Eingang niemand hier. Und der konnte kaum seinen Namen schreiben, geschweige denn Akten lesen.
Karel hatte die Unordnung fast beseitigt, als er ein Ziehen und Kratzen im Hals verspürte. Er kannte dieses Gefühl, und es machte ihm längst keine Sorgen mehr. Der Tumor ergriff Besitz von seinen Stimmbändern.
»Gleich wird jemand kommen«, zischte die Krebsstimme. »Ich kann es spüren.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kann es spüren«, wiederholte der Tumor.
Karel beschloß, nicht darauf einzugehen. Man mußte der Stimme ihren Willen lassen. Wenn ihr die Argumente ausgingen, blockierte sie ohnehin nur Karels eigene Stimme, um doch noch das letzte Wort zu haben. Er hatte sich längst damit
Weitere Kostenlose Bücher