Hex
überhaupt hier gelandet ist.«
»Natürlich.« Karel setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Dann werde ich wohl darauf verzichten müssen.«
Der ältere Mann nickte, während er das Aktenzeichen auf dem Ordner mit dem Papierstreifen verglich. Zufrieden steckte er den Zettel ein.
»Beantworten Sie mir trotzdem eine Frage?« bat Karel.
Sein Gegenüber musterte ihn mit einer Spur von Mitleid. »Sie wollen den Grund wissen, nicht wahr?«
»Würden Sie das nicht?«
Der Mann wandte sich grußlos zur Tür und gab dabei seinem jüngeren Kollegen einen Wink. »Sag’s ihm.« Er selbst verließ den Speicher und stieg die Treppe hinunter.
Der junge Mann blickte in Karels Augen und schien dort etwas zu finden, das ihn beunruhigte. »Eisenstein ist wieder da«, sagte er nervös.
»Wo hat man ihn gefunden?«
»Am Wilhelmplatz, vor zwei Tagen. Er kann sich an kaum etwas erinnern. Und er trug noch dieselbe Kleidung, wie am Tag seines Verschwindens.«
Karel starrte ihn ungläubig an. »Seit sechs Jahren?«
»Allerdings«, sagte der Mann mit merkwürdigem Tonfall. »Er hatte Wunden. Abschürfungen, Kleinkram. Nichts Schlimmes und alles verheilt. Aber der Stoff seines Anzugs ist in die Narben eingewachsen. Er hat ihn nicht ein einziges Mal ausgezogen.«
»Lieber Himmel! Was sagt er, wo er gesteckt hat?«
Ein unsicheres Lächeln flackerte über das Gesicht des Mannes. »Auf dem Mond«, flüsterte er, als fürchtete er, Karel könnte ihn für verrückt halten.
Der Archivar blieb ernst. »Das sagen sie alle, oder? Irgendwann zieht’s jeden Überläufer in die Heimat, und dann kommen die dummen Ausreden.«
»Die Ärzte sagen, er glaubt daran. Faselt die ganze Zeit von grauen Wüsten. Und von Fußspuren im Staub. Völlig verrückt.« Er zuckte zusammen, als wäre ihm schlagartig klargeworden, daß er schon zu viel geredet hatte. Mit einem Ruck drehte er sich um und ging zur Tür.
Die Krebsstimme fauchte ihm bösartig nach, und Karel gab sich nicht länger Mühe, sie zu unterdrücken. Schief und mißtönend sang sie das Kinderlied vom Mann im Mond.
Zweiter Teil
Männer in Schwarz
Kapitel 1
Die Schiffsmesse war ein langgestreckter Raum, deren schrägstehende Fenster den Blick hinunter aufs Meer freigaben. Hunderte Meter unter ihnen rangen grauschwarze Wogen miteinander, während sich rund um die Polar ein Sturm zusammenbraute. Dunkle Wolkenberge zogen am Horizont herauf, und Dunst hing vor den Scheiben wie der Rauch eines fernen Feuers. Ungeachtet dessen hatten Schiffsjungen in der Messe die Gedecke für Passagiere und Offiziere aufgetragen. Es gab weiße Tischdecken, und sogar die Servietten waren akkurat gefaltet.
Max und Sina waren unter den ersten, die sich zum Abendessen eingefunden hatten. Nur knapp die Hälfte der Fahrgäste – außer den Hex-Agenten noch sechs mürrische Forscher – tauchte zum Essen auf, der Rest ließ sich entschuldigen. Auch an Sina und Max waren der Flug und das rauhe Wetter nicht spurlos vorübergegangen. Beiden war übel, und beiden gelang es nur mit Mühe, ihre schlechte Laune zu kaschieren. Daß sie sich trotzdem aufgerafft und zu Tisch geschleppt hatten, war nur der Einladung Kapitän Jessens zu verdanken. Der Befehlshaber der Polar war persönlich von Kabine zu Kabine gegangen und hatte jeden gebeten, mit ihm zu Abend zu essen. Daß dennoch so viele fehlten, war ein Zeichen von Unhöflichkeit, aber auch ein Signal dafür, wie es den meisten ergehen würden, wenn die Polar tatsächlich in einen Sturm geriet. Schon jetzt waren die Toiletten dauerbesetzt.
Jessen war ein grobschlächtiger, aber freundlicher Mann. Sein Gesicht wirkte hart und unnahbar, doch wenn er lächelte, wirkte es herzlich und ansteckend auf alle, die ihn umgaben. Er erwies sich als ausgezeichneter Gastgeber, dem es gelang, die anfangs so abweisenden Forscher in eine angeregte Diskussion zu verstricken. Max und Sina folgten dem Gespräch mit höflichem Interesse, aßen kaum etwas und stellten gelegentlich halbherzige Fragen über geplante Expeditionen, das Klima in Grönland und die Sitten der Eingeborenen.
Schließlich, als die Schiffsjungen die Reste des Desserts abgetragen hatten und die Forscher sich heftig debattierend zurückzogen, blieben Max und Sina noch eine Weile sitzen. Jessen bot ihnen italienischen Rotwein an, den sie ablehnten, schenkte sich selbst großzügig ein und schickte seine Offiziere auf die Brücke. Als die drei endlich allein in der Messe waren, ergriff er von neuem das Wort.
»Ich
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