Hex
einen Eisklotz wie Grönland solch ein Gerangel gibt«, gestand Max.
Jessens Blick geisterte über die leeren Stühle an der Tafel. »Kinder streiten sich um Zuckerstangen, Nationen um Gebiete. Selbst, wenn sie, wie im Falle Grönlands, achtundneunzig Prozent davon nie und nimmer bewirtschaften können.« Er füllte sich abermals das Glas. »Ich schätze, das ist höhere Politik.«
Eine Stunde später lagen Sina und Max in ihren Betten und unterhielten sich flüsternd durch die Zeltplane zwischen ihren Kabinen. Sie hatten die Liegen zusammengeschoben, bis sie durch den Stoff aneinanderstießen. Wäre da nicht das Leinen gewesen, das sie trennte, sie hätten auch in einem gemeinsamen Doppelbett liegen können. Max stellte sich grinsend vor, mit wieviel Widerwillen Sina dieser Gedanke erfüllen mußte. Obwohl, das gestand er ihr zu, die äußeren Zeichen ihrer Abneigung gegen ihn seit Beginn der Reise abgenommen hatten. Allerdings war er auch noch nicht dazu gekommen, die Treppen an Bord zu vermessen.
»Ich nehme an, du hast den gestrigen Abend genutzt, einen Schnellkurs in grönländischer Landeskunde zu machen«, stichelte er leise.
»Was du offensichtlich versäumt hast.«
Er war drauf und dran, ihr von den familiären Verpflichtungen zu erzählen, mit denen er sich am Abend hatte herumschlagen müssen, ließ es dann aber bleiben. Sie hätte nicht einmal Verständnis gehabt, wenn sich der Reichspräsident persönlich bei ihm angekündigt hätte. Sina hielt ihn schlichtweg für einen Faulenzer, der alles andere, nur nicht die Belange des Hex im Kopf hatte.
»Erzählst du mir von Grönland?« bat er in einem Versuch, sie versöhnlicher zu stimmen. »Was hat es mit diesem ganzen Theater um Dänen und Norweger und Weiß-der-Teufel-wen auf sich?«
Sie rückte sich im Bett zurecht. Ihre Decke raschelte. Sie hatte die Lampe angelassen, und Max konnte die schmalen Umrisse ihres Körpers erkennen, die das Licht auf die Plane projizierte wie ein Schattenspiel. »Der Besitzanspruch geht zurück auf die dänisch-norwegische Doppelmonarchie, die seit dem 14. Jahrhundert bestand. 1727 schickte der dänisch-norwegische König einen Gouverneur nach Grönland und mit ihm zwölf Strafgefangene, die mit zwölf Mädchen aus einer Besserungsanstalt zwangsverheiratet wurden. Der Versuch, das Land so zu kolonisieren, schlug fehl, aber schon ein paar Jahre später übernahm ein dänischer Großkaufmann den gesamten Grönlandhandel. Dänische Missionare machten sich zur gleichen Zeit daran, die Eingeborenen zum Christentum zu bekehren. Damit waren die Grundlagen geschaffen, bis das ganze Land schließlich unter der Hoheit Dänemarks stand.«
»Und wie kommen die Norweger ins Spiel?«
»Norwegen«, belehrte ihn Sina, »gehörte bis 1814 zu Dänemark. In der Kolonie Grönland hatten traditionsgemäß Dänen die hochrangigen Beamten gestellt, während Norweger für die untergeordneten Aufgaben herangezogen wurden.«
Er konnte sich denken, was geschehen war. »Nach der Trennung Norwegens von Dänemark beanspruchte die dänische Regierung die Kolonie für sich, stimmt’s?«
Sinas Silhouette auf der Plane nickte. »Und die Norweger, die der Ansicht waren, daß sie die Drecksarbeit geleistet hatten, gingen mehr oder weniger leer aus. Dänemark garantierte ihnen zwar das Jagd- und Fangrecht in den ostgrönländischen Regionen, aber vor sechs Jahren, 1920, erklärten die Dänen, von nun an besäßen sie die Oberhoheit über das ganze Land.«
»Damit mußte es zwangsläufig zum Streit kommen.«
»Vor zwei Jahren unterschrieben beide Länder eine Vereinbarung, die die Rechte der Norweger – zumindest auf dem Papier – ausweitete. In der Realität muß davon jedoch wenig zu spüren sein. Dieses Ittoqqortoormiit, von dem alle reden, wurde erst im vergangenen Jahr als dänische Stadt mitten im norwegischen Fanggebiet gegründet.«
»Eine beabsichtigte Provokation?«
»Natürlich«, entgegnete Sina. »Man will den Norwegern zeigen, daß sie geduldet werden, aber keine wirklichen Anrechte besitzen, nicht einmal auf die öden Küsten im Osten Grönlands.«
Max verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Na, wunderbar. Das heißt, wir sind auf dem Weg in eine Stadt, in der sich gerade zwei Nationen die Schädel einschlagen.«
»So sieht’s aus.«
»Ich bin begeistert.«
»Das war ich auch, als ich darüber gelesen habe.«
Er bemerkte den Seitenhieb sehr wohl. »Ich hatte keine Zeit. Reicht dir das als Entschuldigung?«
»O ja«,
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