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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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an.«
    Es gefiel ihr ganz und gar nicht, in welchem Ton er mit ihr redete. Aber etwas sagte ihr, daß er recht hatte. Und daß das, was er wollte, wichtig war.
    Sie trat vor und hob das Papier vom Boden auf. Es war dick, fast wie Pappe, und zweimal gefaltet. Der Leierkastenmann rührte sich nicht von der Stelle. Hätte er sie wirklich angreifen wollen, wäre jetzt der Moment dazu gewesen. Er aber sah sie nur erwartungsvoll an und verharrte.
    Es war eine Zeichnung. Oder besser: die Reproduktion eines alten Stichs oder Holzschnitts auf festem Photopapier. Dargestellt war eine mittelalterliche Stadt mit Türmen und Befestigungsanlagen, daneben Felder und Hügel, von denen Rauchwolken aufstiegen. Der größte Teil des Bildes aber wurde vom Himmel über der Landschaft eingenommen. In seiner Mitte stand die Sonne, verziert mit einem ernsten Gesicht. Rundherum schwirrte eine Vielzahl seltsamer Objekte: Kugeln und Kreuze, kegel- und zepterförmige Rohre, horizontale Halbmonde wie riesige Sensen und – alles beherrschend – eine langgestreckte, pechschwarze Lanzenspitze. Es mußte sich um die Fiebervision eines zeitgenössischen Künstlers handeln, eher grob und unbeholfen im Strich, aber zweifellos faszinierend. Die wirre Anordnung der fliegenden Objekte hatte etwas, das den Betrachter in sie hineinsog und bei längerem Ansehen gar den Anschein einer flirrenden Bewegung erweckte.
    Larissa löste ihren Blick davon, fast ein wenig widerwillig, und fixierte den Leierkastenmann. »Und?« fragte sie. »Was soll das?«
    »Drehen Sie es um«, verlangte er.
    Auf der Rückseite fand sie eine Vielzahl handschriftlicher Notizen, unzusammenhängende Stichworte, Namen, Zahlen und Begriffe.
    »Erkennen Sie die Schrift?« fragte er.
    »Nein.«
    »Das hat Ihr Freund Dominik geschrieben.«
    »Aha«, machte sie, aber die Gleichgültigkeit, die sie herauskehren wollte, wollte ihr nicht ganz gelingen. Gegen ihren Willen hatte der Mann ihre Neugier geweckt.
    Wieder blickte er sich um, diesmal länger und mißtrauischer. Noch immer war niemand in der Nähe zu sehen. Nur ganz weit entfernt, jenseits der Grabsteine und Kreuze, war ein Totengräber damit beschäftigt, eine Grube auszuheben.
    Der Leierkastenmann trat einen Schritt zurück, bis nur noch sein Oberkörper aus dem Rhododendron hervorschaute. »Ich habe dieses Bild in seiner Wohnung gefunden, heute morgen.«
    Ihr war klar, was das bedeuten mußte. Er war dort eingebrochen. Aber noch war er nicht am Ende seiner Erklärungen.
    »Das Original dieses Holzschnitts wird in Zürich aufbewahrt. Es gehört zu einer Sammlung, die ein Pfarrer im 16. Jahrhundert zusammengetragen hat. Dieses Bild hier war offenbar ein Handzettel, der im April 1561 in Nürnberg ausgegeben wurde.«
    »Sie scheinen sich gut in diesen Dingen auszukennen.«
    »Oh, nicht im geringsten«, erwiderte er ausdruckslos. »Mein Kunstverständnis beschränkt sich auf diese eine Sammlung. Das meiste darüber wußte ich schon, aber wenn Sie sich die Stichworte auf der Rückseite ansehen, werden Sie feststellen, daß Dominik Zacharias zu denselben Erkenntnissen gekommen ist.« Wieder blickte er sich wachsam um. »Es gibt einen Text zu diesem Bild, der leider nicht mit reproduziert wurde. Demnach handelt es sich bei dieser Darstellung um das Abbild eines tatsächlichen Ereignisses. Am 14. April 1561, so heißt es, seien diese Objekte am Himmel über Nürnberg aufgetaucht und hätten einander bekämpft. Einige seien dabei zur Erde gestürzt und wurden beim Aufprall zerstört.«
    »Sehr interessant. Und was hat das mit mir zu tun?« Larissa wurde allmählich ungeduldig. Sie wollte fort von hier.
    »Es scheint, als hätte ihr Freund Zacharias Nachforschungen darüber angestellt.«
    Sie blinzelte ihn argwöhnisch an. »Wenn Sie glauben, ich wüßte etwas darüber, dann irren Sie sich. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
    Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie nicht, natürlich nicht. Aber ich möchte Sie bitten, dieses Bild Ihrem Bräutigam zu geben, Maximilian von Poser. Erzählen Sie ihm, was ich Ihnen gesagt habe.«
    Wieder überkam sie Angst um Max. Um keinen Preis würde sie zulassen, daß er in etwas verwickelt wurde, das Dominiks Leben gekostet hatte. Sie wollte etwas sagen, aber der Mann erriet ihre Gedanken und kam ihr zuvor:
    »Max von Poser und der junge Zacharias waren gute Freunde«, sagte er. »Ich bin sicher, es wird ihn interessieren, was mit Dominik geschehen ist.«
    Sie legte all ihren Zorn in ihre

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