Hexen in der Stadt
rechte Strafe finden werde. Aber wer mochte dergleichen Gedanken auf offener Straße merken lassen! So blieb es bei der scheinbaren Eintracht im Abscheu gegen das Hexengelichter.
Alle erschraken, und einige kreischten auf, als eine Schar kleiner Schulbuben aus der untersten Klasse der Lateinschule unter lautem Geschrei daherstürmte: »Hex, Hex, Butterhex!« Sie meinten es nicht böse, hatten niemanden dabei im Sinn, waren nur von der allgemeinen Aufregung angesteckt und trugen ihr Teil dazu bei, rannten durch die Menge, stießen einen Eierkorb um, rissen die Mädchen an den Zöpfen und schrien immer wieder ihr: »Hex, Hex, Hex!«
Aber niemand fand den Einfall besonders witzig. Es setzte Ohrfeigen von allen Seiten und aufgebrachtes Gezeter, solche Dinge seien kein Kinderspiel, sondern viel zu ernst. Als werde es manchem jetzt erst bewußt, wie ernst sie seien, leerten sich Markt und Gassen mit einem Male. Es wurde Zeit für das Mittagessen, denn eben schlugen die Glocken an.
Als sie ausläuteten, schloß Sebastian die Haustür hinter dem letzten Patienten und rief nach seiner Frau. Sie kam sogleich, wie sie auch an diesem Morgen immer wieder gekommen war, sobald er rief, damit sie ihm Hilfe leiste, einen Arm oder ein Bein festzuhalten, ein weinendes Kind, eine ängstliche Frau zu beruhigen. Diesmal war es etwas anderes, das wußte sie. Denn sie hatte die Gespräche der Wartenden im Flur gehört, und manches war ihr in vertraulicher Geschwätzigkeit zugeraunt worden.
Ihr Mann zog sie in die Studierstube herein und schloß die Tür. Dahinter hörten sie die Magd mit Getöse und reichlich Wasser den Flur säubern von den Spuren der vielen Füße. Sebastian winkte mit dem Kopf nach dem Geräusch und flüsterte: »Schick sie noch heute heim in ihr Dorf, meinetwegen mit einem Jahreslohn, aber heute noch. Dort ist sie sicherer als hier – und wir sind es vor ihr.«
»Ja, Sebastian«, erwiderte die Frau.
»Ich sollte euch auch lieber wegschicken«, fuhr er fort. »In der Weinberghütte meiner Muhme könntet ihr ganz gut hausen, nur eine Tagreise weit von hier.«
»Ach, diese Weinberghütte!« rief Veronika und lachte ein wenig trotz des bitterernsten Gesprächs. »Schon als du sie erbtest mit dem Weinberg, hast du gesagt, sie sei in einem erbärmlichen Zustand. Und jetzt willst du uns gar drin wohnen lassen. Nein, nein, Sebastian, hier sind wir besser aufgehoben – und auch sicher!« fügte sie mit einem Anklang von Trotz hinzu.
Er überhörte ihn und sagte: »Vielleicht hast du recht, einstweilen. Man sollte keinen Argwohn wecken. Ihr müßt eben die Hausarbeit für eine Zeit allein machen und euch ganz für euch halten, noch mehr als in der Pestzeit. Denn diese Pest ist schlimmer.«
»Ja, Sebastian«, erwiderte sie und fragte dann doch: »Und Jakobe und ihre Kinder?«
»Die ist besser beschützt als wir. Ihr Mann ist immerhin Ratsherr. Die Steres sind alteingesessen und haben Einfluß.«
Veronika schwieg. Es geschah zum ersten Mal, daß er Jakobe, die älteste Tochter, so ausschloß aus ihrer kleinen Gemeinschaft. Aber es mußte ja sein. Er hatte recht und hätte nicht anders entscheiden können, wäre sie sein eigenes Kind gewesen. Für Jakobe war jetzt ihr Mann verantwortlich. Der junge Ratsherr zum Stere war wohl imstande, Weib und Kinder selbst zu schützen.
Veronika hob den Kopf und blickte ihrem Mann in die Augen. Wie viele Male in diesem Vierteljahrhundert ihrer Ehe hatten sie so voreinander gestanden, bedroht, umstellt, bereit zur schweigenden Gegenwehr oder zur Flucht, immer im gleichen Kampf gegen den gleichen Feind. Mit einem Male packten sie sich bei den Händen, stürzten gegeneinander, sich umklammernd, schutzsuchend jeder und zugleich den andern schirmend.
»So war es noch nie«, murmelte Sebastian. »Gott mag wissen, wie es ausgeht.«
Später am gleichen Tag, auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch, begegnete Sebastian draußen vor dem Tor einem jungen Burschen, der mit schlenkernden Armen und hüpfendem Schritt lustig pfeifend schon von weitem seine gute Laune bekundete. Er erkannte den Kilian Poscher, den Sohn einer Ratsschreiberswitwe, dessen er sich einmal angenommen und ihn als Schreiber in der bischöflichen Kanzlei untergebracht hatte.
»Nun, Kilian«, fragte er, »was freut dich denn so sehr?« Er dachte, es sei doch erstaunlich, aber auch tröstlich, wenn an einem solchen Tag wie heute irgendein Mensch einen Grund zur Fröhlichkeit fände.
Der Kilian platzte stolz heraus:
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