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Hexenblut

Hexenblut

Titel: Hexenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil White
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hätte meine Mutter über seinen Job gestellt und wäre sofort wieder gegangen. Das war das einzig Richtige. Ich wollte mich in Richtung Haustür davonmachen, doch Katie kam mir entgegen. Sie trug Leggings, die wie eine zweite Haut ihre Beine umschmiegten, dazu ein knappes T-Shirt, unter dem sich ihr flacher Bauch deutlich abzeichnete, die Haut war blass und wirkte samtweich, ihr Bauchnabel war gepierct.
    Sie musste mir angemerkt haben, was mir durch den Kopf ging. »Ich dachte, du willst etwas über die Briefe erfahren.«
    »Das ist richtig«, erwiderte ich.
    »Dann setz dich hin.«
    Ich zögerte, dann tat ich, was sie sagte, warf dabei aber einen Blick auf meine Armbanduhr.
    Katie verschwand in die Küche, und als sie zu mir zurückkehrte, brachte sie zwei Gläser Wein mit. »Ich mag es nicht, allein zu trinken«, erklärte sie.
    Während ich einen Schluck trank, setzte Katie sich zu mir aufs Sofa, legte die Füße hoch und sah mich über den Rand ihres Glases an.
    »Erzähl mir von den Briefen«, forderte ich sie auf.
    »Alles zu seiner Zeit.«
    »Okay«, erwiderte ich. »Dann beantworte mir stattdessen eine andere Frage: Was für eine Sorte Mensch muss man sein, wenn man in einem Haus lebt, in dem jemand ermordet wurde?«
    »Für was für eine Sorte Mensch hältst du mich denn?«, gab sie zurück und zog eine Braue hoch.
    »Dahinter bin ich bislang noch nicht gekommen.«
    Katie dachte kurz nach, dann fragte sie: »Wie denkst du über Geschichte?«
    »Du studierst Geschichte«, hielt ich dagegen. »Antworte du zuerst auf deine Frage.«
    Katie rutschte näher, und ich nahm den blumigen, frischen Duft ihres Duschgels wahr. »Ich denke an diese Straße und frage mich, wie viele Menschen schon auf dieser Straße unterwegs waren und alle die gleiche Aussicht zu sehen bekommen haben. Geh hundert Jahre zurück, und es sieht noch immer alles so aus. Die gleichen Häuser, die gleichen Türen. Anstelle einer geteerten Straße gibt es Kopfsteinpflaster, Autos gibt es noch keine. Vielleicht sind die Häuser inzwischen ein wenig heruntergekommen. Du weißt schon, die Dächer sind ein Stück weiter eingesunken, und morgens kann es sein, dass jemand die Fenster im Vorbeigehen mit Kebab beschmiert hat. Aber eigentlich hat sich die Straße gar nicht so sehr verändert.«
    »Ist das nicht überall das Gleiche?«
    »Ich schätze schon, aber diese Dinge sind mir mal wichtig vorgekommen. Geschichte ist mir wichtig vorgekommen. Es ist das, was mich dazu gebracht hat, ganz an den Anfang zurückzukehren. Das wurde mir immer wieder gesagt: Wenn du eine Sache wirklich verstehen willst, dann musst du an den Anfang zurückkehren, damit du weißt, was sich vor der Gegenwart abgespielt hat. Doch jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. So viele Menschen haben hier gelebt. Hier kamen Kinder zur Welt, hier starben Leute, hier wurde gestritten, hier wurde geheiratet. Das alles hat sich hinter diesen Mauern abgespielt, und seinerzeit war das für die Menschen wichtig. Aber«, sie schnippte mit den Fingern, »davon ist nichts mehr geblieben. Letzten Endes ist das alles bedeutungslos, und eines Tages wird jemand zurückblicken und das Gleiche über Lukes Tod sagen. Aber dann wird von uns niemand mehr da sein, und diese Unterhaltung wird keine Bedeutung mehr haben.«
    »Dann kannst du hier wohnen bleiben, weil das, was geschehen ist, letztlich vergessen werden wird?«, fragte ich.
    »So in der Art«, antwortete sie. »Was hier geschehen ist, spielt eigentlich keine Rolle, jedenfalls nicht auf lange Sicht. Es hat keine Bedeutung.«
    »Das klingt etwas respektlos Luke gegenüber«, warf ich ein. »Als hätte es keine Bedeutung, ob er lebt oder tot ist.«
    Katie schüttelte den Kopf. »Ich möchte bloß wieder zu dem Zustand zurückkehren, wie es einmal war. Als das hier eine schäbige kleine Straße in einer heruntergekommenen Industriestadt war und ich über die Dinge nachdenken musste, die Sarah mir vor Augen geführt hat.« Sie klang gedankenverloren und trauriger als zuvor.
    »Wieso sagst du, dass Sarah dir etwas vor Augen geführt hat?«, fragte ich.
    Sie sah mich an, und als sie tief durchatmete, kehrte etwas von dem Funkeln in ihren Augen zurück. »Die Briefe«, erklärte sie. »Die Briefe, die dich so interessieren. Es sind Geständnisse, sie gesteht den Mord an Luke. Und sie sind an mich adressiert.«
    Verblüfft saß ich da und schwieg. Geständnisse? Das veränderte den ganzen Sachverhalt. Wussten Sarahs Eltern davon?
    »Wo sind sie?«,

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