Hexenerbe
dem Gedanken, dass Pablo sie erspüren konnte. Seine Gabe machte sie nervös, und sie hatte sich nach Kräften bemüht, ihm ihren Geist zu verschließen. Aber sie wusste nicht recht, ob es ihr gelungen war. Falls der Junge irgendwelche Geheimnisse kannte, schien er sie jedenfalls gut unter seiner stillen, ernsten Oberfläche zu verbergen.
Amanda und Nicole fielen ihrem Vater um den Hals und umarmten auch Tante Cecile und Silvana. Kari drückte Dan an sich und begrüßte ihn herzlich. Holly bemerkte die Tränen auf all den Gesichtern und verspürte einen bittersüßen Stich. Es war niemand da, der sie so willkommen hieß. Jer stand nur in einer Ecke herum, reglos und düster.
»Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht«, sagte Amanda zu Holly, als sie ihren Vater wieder losgelassen hatte.
»Ich mache mir viel mehr Sorgen um euch, jetzt, da ich wieder da bin«, entgegnete Holly. »Ich glaube, Michael weiß, dass wir hier sind.«
Nicole wurde bleich, und Holly konnte ihre Qual nachempfinden. Sie hat immer noch schreckliche Angst vor James ... und das aus gutem Grund.
»Er vermutet es vielleicht, aber er weiß es noch nicht sicher«, bemerkte Pablo leise.
Ein Schauer kroch Holly über den Rücken, als sie Pablos Blick begegnete. Sie musste sich auf das Gute konzentrieren, darauf, was der Junge für die Gruppe tat, und nicht auf die Gefahr, die er für sie darstellte.
Richard hatte sich gezwungen, keine Bestürzung zu zeigen, als er seine verheerte Heimatstadt sah. Er hatte genug Schlachten miterlebt, um eine Belagerung zu erkennen. Hier waren Kräfte am Werk, die er nicht verstand. »Kenne deinen Feind, und kenne dich selbst, und in hundert Schlachten wirst du nie in Gefahr geraten.« Sun Tsu hatte ganz recht.
Während der Fahrt starrte er reglos zum Fenster hinaus. Er hatte wieder zu sich selbst gefunden und kannte seine eigenen Stärken und Schwächen sehr genau. Von seinem Feind konnte er das nicht behaupten, doch er lernte schnell.
Der Gedanke daran, dass er gleich Nicole und Amanda wiedersehen würde, schnürte ihm die Kehle zu. Er war nicht für sie da gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Er würde sich sein restliches Leben lang bemühen, das wiedergutzumachen. Holly hatte ihm zwar gesagt, dass es ihnen gutging, doch das würde er erst dann wirklich glauben, wenn er sie mit eigenen Augen sah und sie in die Arme schließen konnte. Er holte tief Luft und zwang sich zur Geduld.
Schließlich hielten sie vor einem Haus, das er nicht kannte, und zwei Fremde eilten herbei, um sie in Empfang zu nehmen. Er musterte die beiden, und was er sah, gefiel ihm. Vor allem der junge Mann, der kurz mit Holly sprach - er strahlte innere Stärke aus und hatte einen kräftigen Kiefer und einen festen Blick.
Sie gingen rasch ins Haus, und dann endlich sah er Amanda und Nicole. Sie stürzten sich in seine Arme, und er spürte, wie ihm heiße Tränen über die Wangen liefen. Sie waren am Leben, und beide umgab ein Strahlen, an das er sich nicht erinnern konnte. Er drückte sie an sich und murmelte immer wieder: »Ich liebe euch.«
Nie wieder würde er sie im Stich lassen. Nie wieder.
Während die anderen sich unterhielten und ihre Geschichten austauschten, trat Dan zu Holly und sagte: »Ich glaube, du brauchst ein wenig Zeit in der Schwitzhütte. Um wieder zu dir zu kommen. Und in Ruhe nachzudenken.«
Sie nickte dankbar. »Ja, das ist genau das, was ich jetzt brauche. Vielen Dank.«
Leise schlüpfte sie hinaus.
Sie zog sich aus und betrat den kleinen Raum, in dem Dan bereits ein Feuer entzündet hatte, das für den heiligen Rauch und die nötige Hitze sorgte. Holly hockte sich vors Feuer, schloss die Augen, atmete tief und langsam ein und klärte ihren Geist.
Ihre Hände waren verkrampft, der Rücken steif. Sie versuchte, ihren Körper zu entspannen, doch sie wusste nicht einmal mehr, wie sich Entspannung anfühlte. Inzwischen kannte sie nur noch zwei Daseinszustände: Alarmbereitschaft und Erschöpfung.
Ich reagiere nur noch, dachte sie. Wir müssen einen Plan schmieden, selbst angreifen, uns überlegen, wie wir die bösen Jungs besiegen können.
Schweißperlen rannen über ihre Stirn und ihre Brust. Sie rückte ein wenig von dem Rauch ab und konzentrierte sich auf ihren Atem.
Und plötzlich bemerkte sie, dass sie nicht allein war.
Sie fuhr erschrocken zusammen. Dann legte sich eine Hand sacht auf ihre, und sie erkannte, dass es Jer war. »Oh«, flüsterte sie.
Er legte den Zeigefinger an die Lippen. Sie
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