Hexenerbe
Mund sein, auf dass ich die Wahrheit ausspreche«, erklärte Amanda.
»Ich will die Augen sein, auf dass ich Feinde schon von Ferne erkenne«, fuhr Nicole fort.
»Ich will die Hand sein, auf dass ich jeden niederschlage, der das Schwert gegen uns erhebt«, verkündete Holly.
Neben jedem der drei Mädchen erschien auf leisen Pfoten eine Katze. Bast und Freya hatten den Neuankömmling Astarte akzeptiert und aufgenommen. Nicole sprach ein stilles Gebet für Hecate, ihr verstorbenes Hexentier. Ein Bild stand ihr plötzlich vor Augen, so klar und kraftvoll, dass es sie überwältigte. Hecate saß zu Füßen einer wunderschönen Frau - der Göttin in einer ihrer vielen Erscheinungen.
Tränen brannten in ihren Augen, als ihr eine Last von den Schultern fiel. Sie hatte sich so lange mit Schuldgefühlen gequält, weil sie ihre Katzengefährtin zurückgelassen hatte und davongelaufen war. Das hatte Hecate nicht verdient. Aber sie hatte keine Möglichkeit gehabt, die Katze mitzunehmen. Schlimmer noch: Weil Hecate eng mit der Magie verbunden war, die Nicole bereits gewirkt hatte, hatte sie die Katze nicht mehr in ihrer Nähe haben wollen. Hecate hätte sie ständig an das Leben erinnert, das sie zu vergessen hoffte.
»Frieden«, murmelte Amanda und strich über ihrer Kerzenflamme mit der Hand durch die Luft. Nicole beeilte sich, es ihr gleichzutun, und sprach das Wort gemeinsam mit Holly aus.
Amanda hatte gewusst, dass ihre Schwester sich ihrem kleinen Zirkel anschließen würde, doch sie konnte ein Lächeln trotzdem nicht verbergen, als Nicole in der Tür erschien. Es war schön, sie wieder hier zu haben. Als Nicole geflohen war, hatte sie anscheinend Amandas schlechte Erinnerungen und all ihren Zorn auf ihre schöne Schwester mit fortgenommen.
Jetzt war Nicole wieder da, und ohne die vielen Jahre aufgestauten Grolls zwischen ihnen entdeckte Amanda, wie sehr sie ihre Zwillingsschwester liebte. Sie dankte der Göttin für diese zweite Chance, denn ihr war bewusst, dass alles auch ganz anders hätte laufen können.
Ihre Mom und Onkel Daniel hatten schließlich jahrelang nicht mehr miteinander gesprochen. Holly hatte vor dem Tod ihrer Eltern nicht einmal gewusst, dass ihr Vater eine Schwester hatte.
Vielleicht stimmte das alte Sprichwort, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber Amanda wusste, dass die wahre Veränderung in ihr selbst vorgegangen war. Im Lauf des vergangenen Jahres war sie erwachsener geworden, hatte ihre kindische Eifersucht auf ihre Schwester abgelegt und den wahren Wert einer Familie erfahren.
Nicole schien sich ebenfalls verändert zu haben. Nach allem, was sie von ihrer Zeit in Europa erzählt hatte, musste dieses Jahr für sie ein einziger Albtraum gewesen sein. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie James Moore heiraten musste.
Amanda schüttelte langsam den Kopf. Solchen Kummer hätte sie ihrer eigensinnigen Schwester nicht einmal gewünscht, als sie noch geglaubt hatte, Nicole zu hassen. Amanda betrachtete Nicole über die Kerzen ihres Zirkels hinweg und fühlte sich ganz und vollkommen.
Jedes der drei Mädchen nahm die Kerze vor sich und hob sie langsam empor. Ein heißer Windstoß fegte durch den Raum und fachte die Flammen an, bis sie den dreien hoch über die Köpfe schlugen. Plötzlich zuckte Nicoles Kerzenflamme zur Seite und bog sich zu Amandas hinüber. Amandas Flamme neigte sich und verband sich mit Hollys. Und Hollys Flamme schlug einen Bogen zu Nicoles, bis ein geschlossener Ring aus Feuer über ihren Köpfen schwebte und sie miteinander verband.
»Was auch immer jede von uns allein tun kann, wird durch die anderen gesteigert«, flüsterte Amanda ehrfürchtig.
Während Nicole zustimmend nickte, lächelte Holly schwach. Es war gut, dass ihr Zirkel wieder vollständig war und dass ihre Cousinen Kraft daraus bezogen. Sie liebte sie beide, doch die Kluft zwischen ihr und ihnen tat sich immer weiter auf. Die anderen hatten Angst vor ihr. Deshalb würde sie ihnen auch nie sagen, dass sie diesen Feuerring zwischen ihren Kerzen geschaffen hatte. Es war besser, sie glaubten weiterhin an die Macht des Teamworks, die Magie der drei.
Karis Augen brannten, weil sie seit Stunden auf den Computerbildschirm in Dans winzigem Arbeitszimmer starrte. Bücher über Schamanismus nahmen eine ganze Wand voller Regale ein. Traumfänger und Medizinbeutel stapelten sich in einem klaren Plexiglaswürfel.
Sie hörte die Bodendielen knarren und wusste, dass noch andere wach waren. Vermutlich zauberten
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