Hexengericht
Raphael.
Der Knabe beachtete ihn nicht, sondern kniff seinem Großvater unablässig in Wangen und Bauch, um ihn aufzuwecken.
Raphael packte den Knaben fest an den Schultern und zog ihn zu sich heran. »Noé! Hör zu, was ich dir sagen will!«
»Du tust mir weh«, heulte Noé.
Raphael lockerte den Griff. »Es tut mir Leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Aber es ist wichtig, dass du mir gut zuhörst. Wir schaffen deinen Großvater dort hinüber.« Er deutete zum Rand des Feldes. »In der Nähe des Feuers ist es zu gefährlich. Bist du ein Mann und hilfst mir?«
Noé nickte. Raphael griff unter Lazares Arme und zerrte ihn fort. Noé, ganz Mann, unterstützte Raphael, indem er den Saum von Lazares Hosenbein ergriff und trippelnd Schritt zu halten versuchte.
Am Rand des Feldes legten sie Lazare ab. Raphael streifte seine Gugel ab und bettete Lazares Kopf darauf. »Ich gehe in euer Haus, um nach Münzen und Wertsachen zu suchen«, sagte er. »Bleib bei deinem Großvater und beschütze ihn. Wenn die bösen Männer zurückkehren, rufst du nach mir.«
Noé nickte nur.
Raphael lächelte und strich ihm über das Haar. »Dein Großvater kann stolz sein, einen so tapferen Enkelsohn zu haben.«
Raphael rannte zu dem brennenden Haus zurück. Vor der Tür zögerte er kurz, dann hielt er sich den linken Arm schützend vor Mund und Nase und stieß die Tür auf. Eine Welle sengender Hitze erfasste ihn. Überall nichts als brennende Balken, Tische, Stühle, Schränke. Beißender Rauch raubte ihm Atem und Sicht. Er musste husten, und nach wenigen Augenblicken tränten ihm die Augen. Wie sollte er in diesem Inferno nach wertvollen Sachen suchen?
Ohne nachzudenken, drang er tiefer in die Flammenhölle ein. Es knirschte, knisterte und knackte im Gebälk wie in einem riesenhaften Kamin. Aber so sehr er auch stöberte, er fand nichts von Wert. Um ihn herum fielen verbrannte Querbalken des Dachstuhls donnernd zu Boden. Hilflos musste sich Raphael eingestehen, dass es hier nichts mehr zu retten gab.
So verließ er das Haus und kehrte zu Lazare und Noé zurück. Gierig sog er die frische Luft ein. »Ich habe nichts gefunden«, sagte er hustend. »Wie geht es deinem Großvater?«
»Weiß nicht«, wisperte Noé.
Nochmals prüfte Raphael Lazares Puls. Er schien noch schwächer zu sein. »Habt ihr einen Brunnen, eine Zisterne?«, fragte er Noé.
Noé zeigte hinter das Haus.
Raphael stürzte los. Den Brunnen hatte er gleich gefunden. Er warf einen bereitstehenden Eimer hinunter und zog ihn an der Kurbel wieder hoch. Dann schleppte er ihn zu Lazare und schüttete das eiskalte Wasser über dessen Kopf aus.
Lazare schlug die Augen auf. Noé warf sich ihm weinend an den Hals. »Was ist geschehen?«, fragte der alte Mann.
»Die Ritter«, sagte Raphael. »Ihr erinnert Euch? Sie haben Euch niedergeschlagen und Euer Haus in Brand gesteckt.«
Lazare hob den Kopf. »Bei Gott!«, flüsterte er. Sein Kopf fiel ins Gras zurück.
»Auch wenn es Euch nicht zu trösten vermag«, sagte Raphael. »Wir können dem Herrn danken, dass wir noch am Leben sind.«
»Durst«, ächzte Lazare.
Im Eimer war noch ein Rest Wasser, den Raphael ihm zu trinken gab. Dann setzte er sich neben den Verletzten. »Ich habe Euch in Gefahr gebracht. Vergebt mir.«
»Was habt Ihr getan, dass diese Männer Euch nach dem Leben trachten?«
»Ich suche nach der Wahrheit«, sagte Raphael ausweichend.
»Eine Verderben bringende Suche, die Ihr da betreibt«, sagte Lazare.
»Wenn ich die Wahrheit finde, vermag sie tausenden das Leben zu retten.«
»Und Ihr seid nicht allein, oder?«
»Nein.«
Lazare kam wieder zu Kräften. Er richtete sich auf. »Ich nehme Euch die Lüge nicht übel«, ächzte er. »Auch lege ich Euch nicht zur Last, dass mein Haus in Flammen steht. Wenn Euch diese Gesellen nach dem Leben trachten, könnt Ihr nur ein guter Mensch sein und Eure Sache gerecht.«
»Habt Dank für Euer Wohlwollen«, entgegnete Raphael. Er griff in seine Gürteltasche und zog eine Hand voll Münzen heraus. Diese legte er neben Lazare auf die nasse Erde.
»Was habt Ihr vor?«, fragte Lazare, als er das Gold sah.
»Nehmt es von mir als Wiedergutmachung.«
»Das kann ich nicht«, keuchte Lazare. »Damit könnte ich ein Schloss bauen.«
Raphael lachte. »Dann tut es.«
»Wer zur Hölle seid Ihr?«, fragte Lazare. »Gekleidet wie ein Bauer, auftretend wie ein Mönch und wohlhabend wie ein König.«
Wieder lachte Raphael. »Womöglich bin ich ein wenig von jedem.« Er wurde
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