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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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seinem Pferd und holte die Karte hervor. Eingehend studierte er sie. Dann sagte er: »Im Norden liegt Saint-Gély-du-Fesc. Wohl eine größere Ortschaft. Dort sollten wir unsere Vorräte gefahrlos auffüllen können.«
    Jeanne trat neben Raphael. Sie sah auf die Karte und folgte seinem Blick. »Wir müssten zur Mittagszeit dort sein. Ganz einfach.«
    In Anbetracht ihrer bisherigen Schwierigkeiten mochte Raphael nicht glauben, dass es einfach werden würde. Irgendwo würden die Probleme geduldig auf ihr Erscheinen warten. Es konnte anders kaum sein. »Brechen wir auf«, sagte er und faltete die Karte zusammen.
    Die Sonne war nur ein kleines Stück weitergezogen, da hielten sie ein weiteres Mal. Pierre war vorausgeritten und rief plötzlich aufgeregt durch die Bäume: »Wasser! Wasser!«
    Tatsächlich: Zwischen den Bäumen, Sträuchern und Büschen wand sich ein Bach durch das Unland. Ohne zu zögern sprangen sie aus den Sätteln und erfrischten sich.
    Viel später, als Jeanne vorausgesagt hatte, erreichten sie Saint-Gély-du-Fesc. Das Dorf lag dicht am Wald, sodass sie in dessen Schutze Häuser, Gassen und Bewohner beobachten konnten.
    »Macht einen beschaulichen Eindruck«, sagte Amicus, der neben Raphael zwischen zwei Fichten lag.
    »Ich weiß nicht recht«, flüsterte dieser. »Mich beschleicht ein ungutes Gefühl.«
    Amicus lachte leise. »Ungute Gefühle sind meine Sache, Bruder.«
    »Wir gehen getrennt«, sagte Raphael. »Aus verschiedenen Richtungen. Jeder bekommt eine eigene Aufgabe. Anschließend treffen wir uns wieder bei den Pferden.«
    »Wie Ihr meint«, entgegnete Amicus.
    Sie standen auf und gingen zurück zu den Freunden, die keine hundert Schritte entfernt im Dickicht auf sie warteten.
    In kurzen Worten erläuterte Raphael ihnen seinen Plan und verteilte die Aufgaben. Pierre war für Wasser und Wein zuständig, wofür er eine genügende Anzahl an Trinkschläuchen aus Ziegenleder auftreiben musste. Amicus sollte Schinken, Brot und Käse besorgen, Jeanne Äpfel, Pflaumen, Karotten und Tomaten. Raphael beauftragte Luna damit, im Lager bei den Pferden zu warten. Er selbst wollte nach irgendetwas suchen, das ihm die neue Richtung wies. Vielleicht stöberte er ja einen Bären auf. Immerfort kreisten seine Gedanken um die von Juda erwähnte Landkarte des Schicksals. War Saint-Gély-du-Fesc einer der Orte, zu denen er gehen musste? War die Entscheidung, hierher zu kommen, womöglich schon vorbestimmt? Raphael wünschte, Juda hätte ihm nie davon erzählt. Jetzt konnte er an nichts anderes mehr denken und fühlte sich in seiner Entscheidungsfreiheit gehemmt. Mit aller Macht wischte er die Gedanken aus seinem Kopf. Sie waren im Augenblick nur eine Last.
    Das Dorf war erfüllt von Heiterkeit, Gesang und lachenden Menschen. Raphael, der Saint-Gély-du-Fesc von Westen aus betrat, ahnte, dass die Pest hier noch keinen Einzug gehalten hatte. Die Bestätigung fand er auf den Kirchtürmen: Keinen zierte die schwarze Fahne, die dem Besucher aus der Ferne das Wüten des schwarzen Todes anzeigte. Der Hauch der Pest lag noch nicht über den Dächern und Gärten dieses freundlichen Ortes. Wo immer man ihn sah, erntete er gute Wünsche. Sogar die Kinder, andernorts unerzogen, dreckig und garstig, lachten ihn an und zeigten ihm stolz ihr Spielzeug. Raphael atmete tief durch. Es war eine Freude, in diesen Straßen und Gassen zu wandern. Nicht einmal in Rouen besaßen die Leute die Leichtigkeit und Gastfreundschaft, mit der man ihn hier empfing.
    Von der guten Laune angesteckt, ging er lächelnd und fröhlich pfeifend seines Weges. Nirgendwo lauerte Gefahr. Keine Söldner, Soldaten oder Ritter. Niemand, der ihm an den Kragen wollte. Schon nach kurzer Zeit fühlte sich Raphael so sicher wie in Judas Haus.
    Vor einem Bauernhaus am südlichen Rand des Dorfs saß ein alter Mann auf einer Bank, der mit einem Knaben von vielleicht vier Jahren spielte. Der Alte schnitzte Pferde, Ochsen und Menschen, die der Knabe im Kreis aufstellte. Unter der Bank lag friedlich schlummernd ein großer schwarzer Hund, dessen Rasse Raphael nicht kannte.
    »Gott zum Gruße, Fremder«, sagte der Alte, als er Raphael kommen sah. Sein dichtes, ergrautes Haar hing ihm bis über die Schultern. Er war von kräftiger Statur und, wie Raphael erst jetzt erkennen konnte, da er aufstand, von ähnlich hünenhafter Größe wie Amicus. In den Schultern war er allerdings noch breiter. Das Messer in der einen, das Schnitzwerk in der anderen Hand, wartete er auf den

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