Hexengericht
ernst. »Meine Freunde sind im Dorf. Ich muss ihnen helfen. Nehmt die Münzen und baut ein schönes Haus für Euch und Noé.« Er nahm seine Gugel und stand auf.
Stöhnend versuchte Lazare, auf die Beine zu kommen. »Ich gehe mit Euch, um eine Schuld bei den Bastarden zu begleichen und einige von ihnen in die Hölle zu schicken.« Er schwankte und stürzte wieder zu Boden.
»Ihr bleibt hier bei dem Knaben«, wandte Raphael ein. »Er braucht Euch. Außerdem seid Ihr zu schwach.«
»Ihr habt wohl Recht«, grunzte Lazare.
»Lebt wohl, guter Lazare«, sagte Raphael zum Abschied.
»Lebt wohl, Raphael. Und viel Glück.«
Raphael nickte und wandte sich ab. Er ging vorbei an Lazares brennendem Haus, quer durch einen ausgetrockneten Bach und dann am Rand des Dorfs entlang. Hinter einer hüfthohen Steinmauer suchte er Deckung. Er spähte hinüber und erblickte einen hellen Lichtschein in der Dorfmitte. »Allmächtiger«, flüsterte er. Die Ritter hatten das halbe Dorf in Brand gesteckt. Jetzt, da der Wind sich drehte, hörte er auch die Schreie der Bewohner und das Dröhnen der Flammen. Wo waren die Freunde? Ob sie rechtzeitig fliehen konnten? Es blieb keine Zeit mehr, Pläne zu schmieden. Er musste handeln.
Einen Augenblick lang hielt er noch inne und sog die Luft in tiefen Zügen ein, dann stürmte er los. In der Hoffnung, man würde ihn zwischen all den Menschen nicht erkennen, rannte er direkt auf den Dorfkern zu. Bauern, Mütter und Kinder kamen ihm entgegen, die in den nahen Wald flohen. Raphael presste sich gegen eine Hauswand und blickte den Fliehenden hinterher. Da plötzlich stieß eine Horde Ritter aus dem Wald heraus und scheuchte die Menge in das Dorf zurück. Raphael zog die Gugel tief in sein Gesicht und ließ sich mit den Leuten treiben.
In der Mitte des Dorfs, rund um einen großen Brunnen, standen dicht gedrängt viele Menschen. Raphael schätzte ihre Zahl auf dreihundert bis vierhundert Seelen. Aus allen Ecken trieben die Ritter weitere Menschen her. Zusammengepfercht wie Vieh, ängstlich und verwirrt standen, saßen oder knieten sie schicksalsergeben auf dem großen Platz, während um sie herum all ihr Hab und Gut ein Opfer der Flammen wurde. Die Ritter hatten einen engen Kreis um sie gezogen. Außerdem waren je zwei von ihnen an jeder Gasse postiert, die vom Marktplatz wegführte. Ein Entkommen war unmöglich.
Raphael verbarg sich zwischen den Bewohnern. Immer wieder hob er kurz den Kopf und suchte seine Umgebung ab. Nirgends ein Lebenszeichen von Jeanne, Pierre oder Amicus. Glücklicherweise war Luna im Wald sicher.
Irgendwann verkündete einer der Ritter seinem Hauptmann, dass alle Bewohner entweder gefangen oder tot seien. Der Hauptmann ritt hinüber zu Imbert, der vor dem brennenden Gemeindehaus wie der Teufel am Eingang zur Hölle auf seinem Pferd saß und die Leute mit kaltem Blick musterte. Er quittierte die Meldung mit einem knappen Nicken. »Hört, was ich euch zu sagen habe. Keinem von euch geschieht ein Leid, wenn ihr befolgt, was ich verlange.«
Ein Mann, groß und kräftig, bekleidet mit der Lederschürze der Schmiede und in der rechten Hand einen Hammer schwingend, trat vor. »Kein Leid soll uns geschehen?«, rief er. »Ihr brennt unsere Häuser nieder, tötet unsere Schweine und Rinder und nehmt uns alles, was wir besitzen. Welches Leid vermögt ihr denn noch über uns zu bringen?« Er spie auf den Boden.
Einer der Reiter verließ seinen Posten. Während er auf den Schmied zuritt, zog er sein Schwert aus der Scheide. Noch bevor der Mann die Arme hochreißen konnte, war der Ritter bei ihm und trennte ihm mit einem Hieb den Kopf von den Schultern. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Einige Frauen fielen ohnmächtig zu Boden.
Imbert zeigte auf den Toten, der keine zehn Schritte von ihm entfernt lag. »Da seht ihr, welches Leid ich euch noch zufügen kann.« Er machte eine Pause. »Nun hört, was ich zu sagen habe. Fremde sind unter euch. Drei Männer und zwei Weiber. Liefert sie aus oder sagt mir, wo ich sie finde, und wir brechen unverzüglich wieder auf. Versteckt ihr sie, ergeht es euch wie diesem Narren hier.«
Stille trat ein. Raphael sah in die Gesichter der Menschen um ihn herum. Würden sie ihn ausliefern? Aber da war nichts als Angst. Wenn nur Amicus bei ihm wäre! Er war ein geübter Kämpfer und würde schon einen Ausweg wissen. Doch womöglich waren die Freunde längst in den Wald geflohen und außer Gefahr.
Gedankenverloren drängte sich Raphael durch die Menge.
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