Hexengericht
Stadtmitte ankamen, blieb Froissy stehen. Es war hier etwas ruhiger als auf dem Marktplatz, die Luft war frisch und erfüllt vom Duft der nahen Backstuben.
»Meine liebe Constance«, sagte er unvermittelt.
Sie starrte ihn mit ihren wässerigen, rot geäderten Augen an. »Ja, Vater?«
»Mein liebes Kind«, begann Froissy erneut, weil er die richtigen Worte einfach nicht finden konnte.
»Ja?«
»Es ist an der Zeit …« Er stockte.
»Ja?«
Noch ein Wort, und ich erwürge sie mit meinen eigenen Händen, dachte Froissy. Er befühlte seinen Kopf. Diese Schmerzen! »Du bist jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Ein Alter, in dem eine Frau aus gutem Hause längst die Pflichten eines Eheweibs und einer Mutter erfüllen sollte.« Er gab ihr Zeit zu erfassen, worauf er hinauswollte. Dies schien ihr gelungen zu sein, denn sie verzog das ohnehin schon schiefe Gesicht.
»Ich will nicht heiraten, Vater«, protestierte sie.
»Sei still und hör zu, was ich dir zu sagen habe.«
»Ja, Vater.«
»Du bist mein einziges Kind«, sagte Froissy. »Erbin meiner Ländereien und Titel. Wenn ich dereinst sterbe, und gebe Gott, dass dieser Tag noch fern ist, muss es einen Nachfolger geben. Ein Kind meines Blutes, das unseren edlen Stammbaum fortführt.«
»Aber …«
»Schweig!«, herrschte Froissy seine Tochter an. »Seit dreizehn Jahren versuchst du dich hinter dem Wörtchen ›aber‹ zu verstecken. Nun ist die Stunde gekommen, in der deine Weigerungen ein Ende haben.« Er war derart aufgebracht, dass er nach Luft schnappte. »Baron de Beaujeu hat eingewilligt, dich zu seinem Weib zu nehmen.«
Jetzt war es Constance, die nach Luft schnappte. »Der Baron ist über hundert Jahre alt!«, keifte sie.
»Der Baron ist so alt wie ich. Ein Mann in den besten Jahren.«
»Er ist kaum noch im Stande, allein zu gehen.«
»Es steckt noch Kraft in seinen Lenden«, erwiderte Froissy. »Das genügt.«
In diesem Augenblick stürmte eine Horde Knaben kreischend und lachend an ihnen vorbei.
Der Marquis fasste an seinen Kopf. »Das ist ja nicht auszuhalten!«, jammerte er. »Lass uns ein Stück gehen, wo es stiller ist.« Er packte Constance am Arm und zog sie mit sich.
Es gab aber keinen stillen Ort. In jeder Gasse, in jedem Winkel wuselte, wimmelte und drängelte sich das Volk.
»Gehen wir vor die Stadt. Dort werden wir die Ruhe finden, die wir suchen.«
Vor den Stadttoren salutierten die Wachen, als sie den Marquis erkannten. Er schenkte den Männern keine Beachtung.
»Der Baron ist ein reicher, mächtiger Mann und steht dem König nahe. Eine Verbindung mit dem Hause Beaujeu wäre für uns in höchstem Maße einträglich«, fuhr der Marquis fort.
»Er ist fett, beinahe blind und stinkt wie abgestandene Ochsenpisse!«
Erschrocken fuhr Froissy zusammen. »Was für Worte nimmst du in den Mund?«
Zornesfalten durchfurchten Constances Stirn. »Es ist nur die Wahrheit, Vater.«
Insgeheim musste Froissy zugeben, dass sie durchaus Recht hatte. Aber die Nase seiner Tochter durfte nicht über Wohlstand oder Untergang seines Erbes bestimmen. »Mit etwas Glück stirbt er, nachdem er dir einen Sohn geschenkt hat.«
Constance schnaufte. »Es gibt andere reiche Männer, die nicht uralt sind und nach …«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Froissy sie. »Was hältst du von Alfonse, dem Sohn des Vicomte de Gaujac? Ein Junker, der es versteht, mit Schwert und Lanze umzugehen.«
»Alfonse ist dumm und hässlich.«
Dumm und hässlich? Froissy betrachtete seine Tochter eingehend. Er schluckte seine Antwort herunter.
Mittlerweile standen sie vor dem Quartier. Froissy suchte weiter fieberhaft nach einem Kandidaten, der zum einen reich und angesehen war, der zum anderen aber, und das war bei weitem das größte Hindernis, Constance zum Weibe nehmen wollte. Und während er nachdachte, fiel sein Blick wie zufällig auf die vergitterten Fenster des Quartiers. Er erstarrte. Hinter einem der Gitter entdeckte er ein Gesicht, das schöner war als alles, was er je gesehen hatte. Ein junges Mädchen von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren. Ihr lockiges Haar leuchtete in der Farbe reinsten Bernsteins und umgab ihr fein gezeichnetes Antlitz wie ein goldener Rahmen. Und erst die Augen! Sie waren tiefblau und besaßen den Glanz des klarsten Bergsees. Tief schien ihr Blick in Froissys Kopf einzudringen, und es war, als wäre nicht er der interessierte Beobachter, sondern als würde dieses Kind ihn der genauesten Begutachtung unterziehen. Nur mühsam konnte er
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