Hexengericht
geleiten. Kommt.«
Die Freunde sahen einander verdutzt an. Schließlich folgten sie dem Mann. Als Jeanne darum bat, Giacomo mitzunehmen, nickte Carcastilla nur, und sie holte den Hengst aus dem angrenzenden Stall.
Sie passierten das Stadttor. Carcastilla führte sie über eine breite Straße. Von hier aus war die Burg des Marquis hoch oben auf einer Kuppe gut auszumachen. Raphael beschloss, sich jede Einzelheit des Wegs und der Burganlagen genau einzuprägen. Er ahnte, dass ihnen das dereinst vielleicht gute Dienste leisten würde.
Der Weg verlief fast schnurgerade durch die ganze Stadt. Überall herrschte hektisches Treiben. Niemand nahm von den Fremden Notiz. Doch Raphael bemerkte die furchtsamen Blicke, die die Leute Carcastilla zuwarfen. Er schien nicht beliebt zu sein.
Dann gelangten sie an den Fuß des Hügels, auf dem die Burg stand. Zwischen den letzten Häusern der Stadt und dem tiefen, mit braunem Wasser gefüllten Wallgraben erstreckten sich etwa hundert Schritte Ödland. Dahinter erhoben sich die Burgmauern, die tausend Schritte lang und fünfhundert breit sein mochten. Als sie den Graben erreichten, rief Carcastilla den Wachen in den beiden Tortürmen ein Kommando zu. Gleich darauf ließen sie die schwere Zugbrücke herunter. Die Freunde betraten hinter Carcastilla die Vorburg. Sogleich zogen die Wachen die Brücke wieder hoch. Nun gab es kein Zurück mehr.
Erst von hier aus war zu erkennen, wie stark die Burg befestigt war. Die Mauer war eine Manneslänge dick und fünf Längen hoch. Sie trug einen Wehrgang mit Brustwehr und Schießscharten. An ihren schwächsten Punkten war sie zusätzlich mit einer noch höheren und stärkeren Schildmauer umgeben. Ringsum ragten Wehrtürme in den Himmel. An ihnen und in regelmäßigen Abständen auch an der Mauer waren Pechnasen zum Schutz gegen Feinde angebracht.
Über einen gewölbten Torweg drangen sie tiefer in die Burg ein. Direkt an der Mauer lagen die Behausungen des niederen Personals, die Ställe, Scheunen und Hundezwinger. Carcastilla rief einen Stallburschen heran und befahl ihm, sich um Giacomo zu kümmern. Dann standen sie vor dem nächsten Tor, das wiederum in eine hohe Mauer eingelassen war. Die Wachen zogen das Tor in die Höhe und gewährten der Gruppe Einlass in die Niederburg. Hier standen die Häuser für die Burgmannen und Ministerialen und die Stallungen für die Pferde des Marquis. Der obere Teil der Niederburg war zum Turnierplatz für Ritterturniere hergerichtet. Dort lag auch die überdachte Zisterne.
Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt der Kuppe, auf der die Oberburg lag. In der Mitte stand das dreistöckige steinerne Herrenhaus. Eine strenge Bewachung war hier nicht mehr nötig. Wer bis hierher gekommen war, war dazu berechtigt. Andernfalls lägen seine sterblichen Überreste unten im Wallgraben.
Carcastilla ging voran und erklärte, dass das Herrenhaus im Keller einen Kerker und den Weinkeller beherbergte. Raphael fiel auf, dass er das Wort ›Kerker‹ besonders betonte. Darüber befand sich der Rittersaal. Im ersten Stock lebte der Marquis. Diesen Bereich durften sie nur auf ausdrückliches Geheiß des Marquis betreten. Darüber lagen die Gemächer der Frauen und die Küche, im dritten Stock dann die Kammern für Getreide, Mehl und andere Lebensmittel. Zudem waren hier die Schlafstuben der Pagen und des Küchengesindes untergebracht.
»Dort werdet auch ihr schlafen. Habt ihr alles verstanden?«, fragte Carcastilla die Gäste.
Sie nickten.
»Dann bringe ich euch zu euren Kammern«, sagte er und stieg die breiten Stufen im schmucklosen Inneren des Herrenhauses hinauf.
»Wann können wir Luna sehen?«, wollte Amicus wissen.
Carcastilla wandte sich nicht um, als er antwortete: »Bald.«
Kopfschüttelnd und die Hände zu Fäusten geballt, stapfte Amicus hinter dem Kastellan her.
Im obersten Geschoss war es düster und stickig. Auf dem Gang gab es kein Fenster, die einzige Lichtquelle war eine heruntergebrannte Fackel. Es roch nach Mehl und Schweiß. Feiste Küchenjungen trugen unermüdlich Zutaten für ein opulentes Mahl hinunter in die Küche. Ein Koch trieb sie mit harschen Worten zur Eile an. »Hier sind zwei Kemenaten für euch«, sagte Carcastilla und wies auf zwei zersplitterte Türen, die einander gegenüberlagen.
»Raphael und ich nehmen die eine«, sagte Jeanne.
»Warte.« Carcastilla hielt sie zurück. »Ist sie dein Eheweib?«, wollte er von Raphael wissen.
»Nein, aber …«
»Dann schläft sie
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