Hexengericht
sich von dem Anblick losreißen. »Wir gehen zurück«, sagte er zu Constance, ohne den Blick von dem schönen Geschöpf zu wenden.
Constance war dies nur recht. Sie eilte ihrem Vater voraus.
Vor den Stadttoren winkte der Marquis Carcastilla heran. »Bringt mir dieses Mädchen«, flüsterte er. »In zwei Stunden soll sie in meinen Gemächern erscheinen.«
Carcastilla nickte. Dann folgte er seinem Herrn und dessen Tochter zurück auf die Burg.
Im Quartier war Raphael die seltsame Begegnung zwischen Luna und dem in edelstes Tuch gekleideten Herrn nicht entgangen. Wohl ein Mann von Stand oder ein Patrizier. »Weißt du, wer das war?«
»Ich glaube, es war der Marquis«, antwortete Luna. Ihre Stimme war leise und wirkte zerbrechlich wie Porzellan.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Raphael weiter.
»Nein.«
»Weißt du, was er wollte?«
Sie schüttelte den Kopf.
Raphael war besorgt. Der verlangende Blick des alten Mannes war ihm nicht entgangen. Vorerst beschloss er, seine Befürchtungen nicht mit den anderen zu teilen. Das würde sie nur beunruhigen.
Als jedoch nach einer Stunde ein vierschrötiger Diener des Marquis erschien und Luna fortschleppte, verlangten sie von Raphael eine Erklärung. Und so berichtete er, was geschehen war und was er vermutete.
Pierre wurde blass. Er stürzte zum nächsten Fenster und starrte hinaus. Es schien, als wollte er seinen Körper durch das Gitter pressen.
Sorgenvoll legte Jeanne ihren Kopf an Raphaels Schulter. Amicus nahm die beiden zur Seite. Er flüsterte, sodass Pierre ihn nicht hören konnte: »Wir müssen hier raus. Unverzüglich. Das Kind ist in größter Gefahr.«
»Ich weiß, mein Freund«, sagte Raphael. »Jedoch seid selbst Ihr nicht in der Lage, dieses Mauerwerk mit Euren Fäusten zu zerschlagen. Wir können nur warten.«
Amicus fluchte.
»Gott wird sie schützen«, erwiderte Raphael. »Niemand ist in der Lage, ihr ein Leid zuzufügen.« Er sah zu Pierre hinüber, der noch immer die Gitterstäbe umfasste und nach draußen starrte.
Schachpartie
U ngeduldig ging Thibaut de Froissy in seinen Gemächern auf und ab. Ab und zu warf er einen prüfenden Blick in den großen Spiegel und richtete seine Kleidung. Sein Körper roch nach lieblichem Rosenwasser.
Wann endlich erschien Carcastilla mit dem Mädchen? Er sah aus dem Fenster. Der Kastellan war nirgends zu sehen.
Schließlich klopfte jemand an die Tür. Froissy rief ein aufgeregtes »Herein!«, und Carcastilla trat mit dem Mädchen ein. Wortlos brachte er sie zu seinem Herrn und verschwand wieder. Froissy war mit ihr allein. Er ging um sie herum, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Kein Juwel war makelloser, keine Speise süßer und kein Stern glänzender als dieses schöne Kind. Ihre Haltung war von betörender Anmut, ihre Scheu geradezu aufreizend. Lüstern leckte er über seine Lippen. »Wie heißt du, mein Kind?«
»Luna«, sagte sie.
»Luna?«, echote er. »Welch ungewöhnlicher Name.«
Sie antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an, sodass der Marquis glaubte, im tiefsten Meer zu versinken. »Woher kommst du?«, fragte er schließlich.
»Aus Rouen.«
»Aus Rouen? Du bist sehr fern deiner Heimat.«
»Ich weiß.«
»Was hat dich in diese Gegend verschlagen?«
»Ich reise mit meinen Freunden. Und du?«
Aufgrund der ungebührlichen Anrede verlor Froissy für einen Moment die Contenance. Welch freches Ding, dachte er. Aber er konnte ihr einfach nichts übel nehmen »Wie unaufmerksam von mir«, sagte er lächelnd. »Ich bin der Marquis de Froissy.« Er verneigte sich tief.
»Aha«, sagte Luna. »Ich will zurück zu meinen Freunden. Sie machen sich gewiss Sorgen.«
»Ihr könnt bald zurückkehren«, entgegnete Froissy. »Doch gewährt mir zuvor die Bitte, mit Euch speisen zu dürfen.« Ohne es zu merken, war Froissy zur höfischen Anrede übergegangen.
Luna nickte, und Froissy führte sie in den angrenzenden Speisesaal, wo auf einer Tafel allerlei Köstlichkeiten auf ihn und seinen bezaubernden Gast warteten. Er schickte das Küchengesinde hinaus und bot Luna einen Platz am Kopfende der Tafel an. Er setzte sich neben sie und lächelte anzüglich. »Bitte, nehmt, wonach Euch der Sinn steht. Und verlangt es Euch nach einer Speise, die nicht vor Euch steht, sagt es mir, und ich lasse sie unverzüglich zubereiten.«
Froissy erwartete eine Antwort. Zumindest ein Wort des Danks. Aber Luna enttäuschte ihn. Stumm griff sie nach
dem erstbesten Hühnerschenkel und nagte lustlos daran
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