Hexengericht
Mission zu schützen. Er überdachte seine Worte gut und beschloss, ganz vorn zu beginnen. »Ihr fragt euch gewiss, warum ich so überstürzt aus Avignon geflohen bin.« Er machte eine Pause. »Wir fanden im Archivum die Auskünfte, die wir zu finden gehofft haben. Lasst mich euch zunächst von Henri berichten.« Er erzählte von Henris Kindheit, der Barbarei der Kreuzritter in Montaillou und von dessen Verhältnis zu Anne, Lunas Mutter. Nachdem er geendet hatte, schwiegen alle betroffen.
Jeanne legte tröstend einen Arm um Luna, die Raphaels Ausführungen mit geschlossenen Augen gefolgt war. »Mein armes Kind«, sagte sie.
»Das erklärt Henris unmenschliches und blutrünstiges Gebaren«, sagte Amicus. »Wer als Knabe seine Eltern, Freunde und Nachbarn brennen sieht, kann dies nur überstehen, wenn er dem Wahnsinn verfällt oder wenn sein Herz zu Stein wird. Demnach ist er als ein Opfer der Umstände zu betrachten.« Er hüstelte. »Ich scherze nur.«
»Dass er den Glauben seiner Väter annahm, ist auch wenig erstaunlich«, warf Jeanne ein. »Nur sagt mir, warum nicht auch er auf dem Scheiterhaufen starb.«
Über diese Frage hatte Raphael auch schon gegrübelt. »Ich nehme an«, sagte er, »dass irgendjemand Interesse an dem Knaben hatte. Vielleicht ein Verwandter in einem hohen Amt. Dies ist auch nicht das eigentliche Rätsel. Vielmehr interessiert mich, warum der Heilige Vater Henri und Anne schützte. Jeder andere wäre auf den Scheiterhaufen gekommen, nur die beiden nicht. Warum?«
»Erpressung«, sagte Pierre.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Raphael.
»Ihr habt etwas in den alten Rollen gefunden, das Euch sehr aufgebracht hat. Diese Rollen sind offensichtlich von so brisantem Inhalt, dass sie Henri die Macht verliehen, den Papst selbst zu erpressen.«
Bei Gott, der Junge mag Recht haben, dachte Raphael. Dass er auf diesen einfachen Gedanken nicht gekommen war! Zu sehr hatte ihn das, was in den Rollen stand, in seinem klaren Verstand beeinträchtigt. Gewiss war es so gewesen! Mit dem Wissen der alten Schriften war Henri in der Lage, dem Heiligen Stuhl seine Freiheit und die von Anne abzuringen und obendrein für sich eine herausragende Stellung in der Inquisition herauszuschlagen. Als er Anne dann fünfzehn Jahre später wieder begegnete, wollte er die letzte Mitwisserin seiner Vergangenheit beseitigen. Johannes XXII. war längst tot. Und der einzige Kardinal, der der Untersuchung beigewohnt hatte und sich nicht selbst richtete, war spurlos verschwunden und lebte wohl ebenfalls nicht mehr.
»Ich hoffe«, sagte Amicus, »Ihr wollt uns diesen Inhalt nicht vorenthalten, Bruder.«
»Was sagt Ihr?«, fragte Raphael gedankenverloren.
»Die Rollen, Bruder.«
»Ach!«, rief Raphael. »Gewiss, die Rollen.«
»Was habt Ihr darin gelesen?«, fragte Jeanne.
»Die Rollen«, sagte Raphael langsam. »Ein unbekannter Chronist aus der unmittelbaren Umgebung Jesu hat sie verfasst.«
Alle hingen an Raphaels Lippen.
»Der Unbekannte«, fuhr Raphael fort, »zeichnete Leben und Wirken Jesu auf. Es gab hierbei kaum Unterschiede zu den Evangelien. Bis auf die Beschreibung der Geschehnisse nach dem letzten Abendmahl. Erinnert euch an die Worte der Heiligen Schrift: Nach dem letzten Abendmahl ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus zum Ölberg und kam zum Garten Gethsemane. Er meditierte und wartete darauf, dass Judas Ischariot ihn verraten würde. Der kam in tiefer Nacht mit den Männern des Hohepriesters, gab Jesus den verräterischen Kuss, woraufhin die Schergen den Gesuchten erkannten und gefangen nahmen.« Raphael brach ab und atmete einige Male tief durch. »Der unbekannte Chronist jedoch weicht nach dem Abendmahl von den Schilderungen der Bibel ab. Und zwar ganz entscheidend, wenn mir dies zu bemerken erlaubt ist.«
»Nun spannt uns nicht ewig auf die Folter, Bruder«, warf Amicus ein.
»Gut, gut«, sagte Raphael. »Unser unbekannter Freund schildert in seinen Aufzeichnungen, dass es nicht Jesus war, den Judas küsste, sondern Petrus.«
»Nun scherzt Ihr«, sagte Jeanne.
»Mir war nie zuvor weniger zu Scherzen zumute, Madame«, erwiderte Raphael.
»Was geschah dann?«, fragte Pierre.
»Die Männer des Hohepriester nahmen folglich Petrus gefangen«, sagte Raphael. »Offenbar ist die Rolle, die Judas in den Evangelien einnimmt, nicht die, die ihm eigentlich zusteht. Nicht Verräter Jesu war er, sondern Retter. Er hatte Jesus einige Tage vor dem letzten Abendmahl berichtet, dass der Hohepriester ihn zum Verrat
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