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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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die Rollen unter Raphaels Arm. Fassungslos starrte er die drei an. »Was ist hier los?« Luna und Pierre stürmten an ihm vorbei. Als Raphael ihnen folgen wollte, packte Latini die Rollen. »Die bleiben hier!«, schrie er Raphael an.
    Raphael hielt die Rollen fest, doch es war gewiss, dass er sie der kräftigen Hand nicht entreißen konnte, ohne sie zu beschädigen. So entschied er, sie Latini zu überlassen. Es war ohnehin zu spät. Er ließ die Rollen los, Latini taumelte und fiel nach hinten, und Raphael stürmte über ihn hinweg. Während er die Treppe zur Küche hinaufrannte, hörte er die Hilferufe Latinis.
    Oben warteten Luna und Pierre. »Los!«, rief Raphael. »Lauft, so schnell ihr könnt! Lauft!«
    Sie hetzten den ganzen Weg zurück. Einige Mönche kamen ihnen entgegen, behelligten sie jedoch nicht.
    »Judas Buch«, rief Pierre plötzlich und wollte schon zurücklaufen.
    Das Buch der Drogen! Wie hatte Raphael es nur vergessen können. Aber sie konnten nicht mehr zurück. Er packte Pierre und zog ihn mit sich. »Es soll bleiben, wo es ist!«, rief er.
    Endlich erreichten sie das Eingangsportal des Palastes. Sie rissen es auf und rannten an den beiden wachhabenden Mönchen vorbei. Die ersten Strahlen der Sonne waren im Osten zu erkennen. Sie rasten die Treppe hinunter und um den Palast herum. Von Jeanne und Amicus keine Spur. »Wo stecken sie bloß?«, fragte Raphael.
    Luna und Pierre zuckten mit den Schultern.
    Da hörten sie plötzlich leises Rufen. Raphael erkannte Amicus, der auf der gegenüberliegenden Seite der breiten Straße stand. Sie überquerten die Straße in großen Schritten. »Wo ist Jeanne?«, wollte Raphael von Amicus wissen.
    »Gleich hinter dem Haus«, sagte Amicus.
    Raphael lief an ihm vorbei um das Haus herum. Jeanne saß auf dem Boden und schlief. Er schüttelte sie. »Wacht auf, Madame! Wacht auf!«
    Müde öffnete sie die Lider. Raphael packte sie unter der Schulter und zog sie hoch. »Steigt auf Euer Pferd, Madame«, sagte er. »Schnell! Ihr auch, Amicus.« Er stieg aufs Pferd, und auch Luna und Pierre saßen auf. »Und jetzt fort aus der Stadt, so schnell wie möglich!« Er stieß dem Gaul die Fersen in die Flanken und stürmte voran. Durch schmale Gassen, über Plätze und Straßen.
    Sie verließen Avignon durch das Osttor und ritten in das unwirtliche Unland.
    Während Wälder, Wiesen und Felder an ihm vorüberzogen, dachte Raphael darüber nach, was die Protokolle über Henri und Anne berichtet hatten. Und darüber, was in den Rollen stand. Er wusste nun mehr, als er je hatte wissen wollen. Viel mehr.
Die letzte Botschaft Jesu
    E rst nach Stunden, es musste wohl Mittag sein, hielt Raphael es für ungefährlich, eine Rast einzulegen. Sie fanden eine Lichtung im Wald, fernab des Weges. Die Sonnenstrahlen brachen golden durch das Blattwerk auf das braune Gras. Der Wind rauschte in den Wipfeln und bildete mit tausend Vogelstimmen einen beruhigenden Singsang.
    Sie stiegen aus dem Sattel. Jeanne breitete eine Decke auf dem Gras aus. Luna und Pierre holten Brot und Käse hervor. Amicus las Zweige und Äste auf.
    »Kein Feuer, Amicus!«, rief Raphael.
    »Wie Ihr meint«, antwortete Amicus. Er ließ das Holz fallen und legte sich auf die Decke. Luna reichte ihm ein dick belegtes Brot, in das er genüsslich biss.
    Bevor Raphael die Ruhe fand, um bei seinen Freunden zu sitzen, suchte er die Gegend ab. War ihnen jemand gefolgt? Strich irgendwer hier herum? Doch keine Menschenseele war zu sehen. So kehrte er zurück und setzte sich neben Jeanne. Das Brot, das sie ihm anbot, lehnte er ab. Ihm war ganz und gar nicht nach Essen zumute. Er schaute in die Runde. In den Augen der Freunde stand eine Frage. In den vergangenen Stunden hatte er mit sich gerungen, ob er ihnen diese Frage beantworten sollte. Ob er sich selbst gestatten durfte, sie mit einem Wissen zu belasten, das ihren Glauben zerstören oder gar ihren Tod bedeuten konnte. Erst auf dem Weg vom Waldpfad zu diesem anheimelnden Ort war er zu der Überzeugung gelangt, dass es seine heilige Pflicht war, die Freunde einzuweihen. Sollte er sterben, wären sie die Einzigen, die die Wahrheit wussten und, sollte es irgendwann nötig sein, davon berichten konnten. Zwar glaubte er nicht, dass dieser Moment je eintreten würde, doch er kannte die Zukunft nicht. Und er fühlte im tiefsten Herzen, dass sie es wissen sollten. Dass sie ein Recht auf die Wahrheit hatten. Sie alle hatten unzählige Male ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn auf seiner

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