Hexengericht
übersetzte ihn ins Hebräische, rechnete die Werte zusammen und rief dann: »386!« Er schrieb die Zahl in den Staub auf einem der Bücher, damit Pierre wusste, wonach er suchen musste. »Schnell! Lauft und sucht nach dieser Zahl auf den Steinplatten!«
Wie eine Hasenfamilie, die von Wölfen gehetzt wird, stoben sie auseinander. Die Müdigkeit machte ihnen allen zu schaffen, doch beflügelt davon, dass sie der Lösung des Rätsels nah waren, mobilisierten sie all ihre Kräfte.
Schließlich war es Luna, die den richtigen Stein fand. »Hierher!«, rief sie.
Raphael und Pierre fanden sie zwei Gänge weiter. Sie stand, wild mit den Armen gestikulierend, vor einer Steinplatte und deutete darauf. Raphael zog das Messer hervor und begann, die Fugen freizukratzen. Aufregung, Erschöpfung und Anstrengung ließen Raphael den Schweiß auf die Stirn treten. Er grub, kratzte und scharrte wie im Fieberwahn.
Und endlich war der Stein vom Mörtel befreit. Raphael wischte sich übers Gesicht und rief Pierre herbei, ihm zu helfen. Gemeinsam wuchteten sie die drei Ellen messende Platte beiseite. Darunter kam eine verwitterte eherne Truhe zum Vorschein. Die beiden Männer packten an und zogen sie aus ihrem jahrelangen Versteck.
Andächtig berührte Raphael die Truhe, als stünde die Bundeslade selbst vor ihm. Vorsichtig hob er den Deckel an. Vor ihm lag etwa ein Dutzend vergilbter, spröder Schriftrollen. Darunter stachen die Hörner einer Asmodi-Skulptur hervor. Zudem Kandelaber mit derselben Fratze, silberne Ringe, in die Sprüche in einer unbekannten Sprache eingraviert waren, und Gebetbücher der Katharer. Raphael ließ dies alles liegen. Er war allein an den uralten Schriftrollen interessiert. Behutsam nahm er die erste heraus und entrollte sie. Diese Sprache war ihm bekannt. Es war Aramäisch. »Die Sprache Jesu«, keuchte er. Es waren Zeugnisse aus der Zeit der Menschwerdung des Herrn. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Schweißtropfen bildeten sich auf Raphaels Stirn und rannen an den Schläfen herunter. Der Schreiber, offenbar ein Mann aus der nächsten Umgebung Jesu, beschrieb den Werdegang des Herrn seit dessen Wirken in Kapernaum. Auch die ersten Jünger Andreas, Matthäus und Petrus führte der Unbekannte auf. Die nächsten Rollen berichteten von Jesu Leben und Wirken, wie die Evangelien es darstellten. Es war mühsam, die korrekte Reihenfolge der Rollen festzustellen, aber mit etwas Übung musste Raphael nur die ersten Sätze lesen, um sie einordnen zu können.
Bei acht Rollen fielen Raphael keine bedeutsamen Unterschiede zur Heiligen Schrift auf. Nun waren noch drei Rollen übrig. Seine Augen tränten. Er gähnte und griff ein wenig enttäuscht nach der nächsten Rolle. Die ersten Absätze erzählten von der Zusammenkunft Jesu mit seinen Jüngern zum letzten Abendmahl. Auch hier keine großen Unterschiede zur Bibel. Dann aber berichtete der Unbekannte weiter, und Raphael war schlagartig hellwach. Seine Blicke rasten über die Schriftzeichen. Es war unglaublich, was dort geschrieben stand. Dinge, die die ganze Christenheit erschüttern würden, würden sie bekannt.
Als Raphael die letzten Zeilen der letzten Rolle gelesen hatte, schwankte er. Pierre musste ihn stützen. Er ahnte, dass er den geheimen Schatz der Katharer gefunden hatte. Er bestand nicht aus Gold, Silber oder Edelsteinen, sondern aus diesen uralten Schriftstücken mit ihrem unfassbaren Inhalt. Nur langsam gewann Raphael die Fassung wieder. Nun, mit diesem Wissen belastet, und eine Last war es gewiss, waren sie in größerer Gefahr als jemals zuvor. Sollte der Heilige Vater von ihrem Besuch im Archivum erfahren, würde er jeden Kreuzritter auf sie hetzen. Sie mussten fort von hier. Sehr weit fort. Henri und Cumanus waren von einem Moment zum anderen unwichtig geworden. Er sammelte die Rollen zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. »Luna, Pierre«, sagte er. »Sehen wir, dass wir hier herauskommen. Schnell!«
Luna und Pierre griffen nach den Fackeln und liefen Raphael voraus. Es schien, als wären die Gewölbe noch größer geworden. Unendlich lang war der Weg zurück.
Als sie fast bei der Tür zur Treppe nach oben waren, ging diese auf. Claudius Latini erschien. »Ehrwürdiger Vater, die Nacht ist bald vorüber«, sagte er, als er Raphael erblickte. »Ihr habt …« Er sah Luna und Pierre, die ihre Kapuzen nicht übergezogen hatten. Und er sah somit auch, dass einer der Novizen ein Mädchen war und der andere keine Tonsur trug. Dann gewahrte er
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