Hexengericht
Männern, ohne Raphael aus den Augen zu lassen.
Kaum von den Stricken befreit, stürzten Raphael und Pierre zu Amicus. Er atmete noch, wenn auch schwach. »Hilf mir«, sagte Raphael und deutete auf den Verletzten. Gemeinsam hoben sie Amicus auf Raphaels Schultern. Der Körper des Freundes war schwer, und Raphaels Knie knickten leicht ein.
»Glaubt nicht«, sagte Cumanus, »dass ihr weit kommt. Wir sehen uns wieder. Schon bald.«
»Ich weiß«, sagte Raphael und wandte sich um. Vor Larroque blieben er und Pierre stehen.
»Ich weiß nicht«, sagte Larroque, »wer Ihr seid, Bruder. Noch, was Ihr getan habt, dass diese Männer Euch verfolgen. Doch schaue ich in Eure Augen und die Eures Widersachers, vermag ich zu erkennen, wo Recht und Unrecht liegen. Ich halte die Soldaten auf, bis Ihr über einen ausreichenden Vorsprung verfügt.«
»Habt Dank, guter Mann«, sagte Raphael. »Von Herzen habt Dank.« Er ging an Larroque vorbei über den Kirchplatz. »Die Vorräte, Pierre.«
Pierre lief zu der Stelle, an der Magnus sie überfallen hatte. Er nahm die Säcke auf und lief hinter Raphael her.
Sie gingen durch die Stadt und kamen in den Wald. Pierre schritt voran, um Raphael vor Unwegsamkeiten im Boden zu warnen. Schwerer und schwerer drückte Amicus’ Gewicht auf Raphaels Schultern. Oft fürchtete er, zu stürzen und den Freund damit vollends umzubringen. Wie sollte er mit dieser Last den weiten Weg zu ihrem Lager bewerkstelligen? Durch den hohen Schnee zu stapfen war auch so schon äußerst kräftezehrend.
Als sie an einen Bach kamen, legte Raphael Amicus sachte auf den Boden. Er setzte sich daneben und sog keuchend die kalte Luft ein. Sein Kopf schien ein einziger Eisblock zu sein, an dem dünne Wasserfäden hinabrannen, die langsam gefroren. Sein Rücken schmerzte, sein Nacken war steif. Seine Füße spürte er längst nicht mehr.
»Wie steht es um Euch?«, fragte Pierre.
»Es geht schon«, ächzte Raphael. »Wirf die Säcke ans andere Ufer und hilf mir.«
Pierre tat wie ihm geheißen. Dann griff Raphael unter Amicus’ Arme, Pierre packte die Beine. So trugen sie den Freund über den Bach, der an dieser Stelle nur hüfttief war.
Als sie die andere Seite erreicht hatten, brach Raphael zusammen. Sofort war Pierre bei ihm. »Bruder!«, rief er und bettete Raphaels Kopf auf seinen Schoß. »Bruder Raphael!«
Nur langsam kam Raphael wieder zu Bewusstsein. Alles um ihn herum schien seltsam entrückt. Wie eine Szene in weiter Ferne. Müdigkeit überfiel ihn. Eine unendlich tiefe Sehnsucht, einfach einzuschlafen. Alles andere konnte warten.
Da nahm Pierre eine Hand voll Schnee und rieb damit Raphaels Gesicht ein. Mit einem Schrei richtete Raphael sich auf. »Amicus«, sagte Pierre. »Wir müssen weiter. Wir müssen!«
»Ja, ja«, stammelte Raphael. Er streckte seine Hände nach Pierre aus. »Hilf mir auf, Junge.« Dann stand er wieder auf den Beinen. Auf recht wackeligen zwar, aber er stand. Er ging zu Amicus und wollte ihn hochheben.
»Ich trage ihn ab jetzt«, sagte Pierre und schob Raphael sanft zur Seite.
»Du?«, fragte Raphael. »Du bist ein noch dürrerer Bursche als ich selbst.«
Pierre stemmte die Hände in die Hüften. »Noch dreißig Schritte weiter, und ich habe Euch und Amicus zu schleppen. Da wähle ich doch lieber das kleinere Übel.«
»Da magst du wohl Recht haben«, seufzte Raphael. So half er Pierre, Amicus auf die Schultern zu laden, nahm die Vorräte auf, und weiter ging es durch den Wald.
Pierre tat sich schwer. Sehr schwer. Dennoch schaffte er es, die schwere Last zu tragen. Einige Male musste Raphael Pierre stützen. Der Junge ächzte und stöhnte. Sein Gesicht war rot wie glühende Kohlen.
Endlich erreichten sie das Lager.
Es war Jeanne, die die Freunde als Erste erblickte. Sie rührte gerade die Suppe in einem ehernen Kessel um. Mit einem erstickten Aufschrei ließ sie den Löffel fallen und stürzte den Männern entgegen. Luna stürmte, durch den Schrei alarmiert, aus dem Wald heraus auf die kleine Lichtung. Gemeinsam mit Jeanne bereitete sie ein Lager aus Schaffellen für den Verletzten. Dann halfen sie dem völlig erschöpften Pierre, Amicus abzulegen. Sogleich begann Jeanne, ihn zu untersuchen. Sie zerriss das blutdurchtränkte Hemd, untersuchte die klaffende Wunde und prüfte den Herzschlag. »Sein Herz ist kaum noch zu spüren«, sagte sie.
Derweil holte Luna einen Becher heißen Kräutertee, den sie Amicus an die Lippen setzte. Er war noch immer ohne Besinnung, so
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