Hexengericht
schweren Leichnam hoch und trugen ihn in den Wald hinein. Das Stapfen ihrer Füße im Schnee war das einzige Geräusch auf diesem kurzen Weg. Sie suchten nach einer Stelle, wo der Boden mit viel Laub bedeckt war. Als sie einen geeigneten Ort gefunden hatten, legten sie Amicus vorsichtig ab, entfernten die schneebedeckte Laubschicht und begannen mit ihren Händen zu graben. Das Laub hatte den Waldboden darunter vor dem Gefrieren geschützt, sodass die Arbeit gut voranging. Noch immer schwiegen sie. Es gab keinen noch so weisen Gelehrten, der jetzt ein schlaues Wort gefunden hätte, um den Schmerz der vier Gefährten zu lindern.
In der Nacht war das Grab gegraben. Sie betteten Amicus hinein, stellten sich darum herum auf, und Raphael sprach das Gebet. Er schloss mit den Worten: » Requiescas in pace , mein Freund. Auf dass wir uns dereinst im Himmelreich wiederbegegnen.« Er bekreuzigte sich.
Die anderen taten es ihm nach. Dann schoben sie das Erdreich über Amicus. Pierre baute ein Kreuz aus Ästen, das er am Kopfende des Grabes in den Boden schlug. So schweigend, wie sie gekommen waren, gingen sie auch zurück zu ihrem Lager. Jeanne lehnte sich an Raphael, der einen Arm um sie legte. Mehr Trost vermochte auch er nicht zu spenden.
An der Feuerstelle holte Pierre einen mit Wein gefüllten Schlauch aus einem Vorratssack. »Trinken wir auf einen guten Freund«, sagte er.
»Hört, hört!«, rief Raphael, und Jeanne holte vier Becher, die Pierre bis zum Rand füllte. Raphael hob seinen Becher an. »Auf Amicus!«
»Auf Amicus!«, sagten die anderen im Chor.
Nachdem der erste Becher geleert war, entspannte sich die Stimmung.
»Eines möchte ich wissen«, sagte Jeanne. »Woher wusste Cumanus, dass ihr an diesem Tag zu dieser Zeit in Aubignas sein würdet?«
»Womöglich hat man uns verraten«, vermutete Pierre.
»Dann stellt sich die Frage: wer?«, erwiderte Jeanne. »Es gab niemanden, der auch nur ahnen konnte, dass ihr nach Aubignas geht.«
»Wir haben uns einige Zeit in der Stadt aufgehalten«, sagte Raphael. »Irgendwer hätte genug Zeit gehabt, Cumanus Bescheid zu sagen.«
»Wir werden es wohl niemals erfahren«, sagte Pierre und hob seinen Becher. »Trinken wir auf Amicus!« Er leerte seinen Becher in einem Zug. »Wisst ihr«, lallte er dann, »mir fällt da eine Geschichte von Amicus aus der Zeit vor unserer Reise ein. Sie ist sehr lustig, also lasst sie mich erzählen.« Und er erzählte in blumigen Worten von vielen amüsanten Begebenheiten, als Amicus noch Messerwerfer auf Marktplätzen war.
Die Freunde bogen sich vor Lachen. Schließlich fielen ihnen allen liebevolle, heitere und kühne Geschichten über Amicus aus ihrer gemeinsamen Zeit ein. Es wurde eine fröhliche Nacht, in der sie eines Mannes gedachten, dem dieser Abschied wohl gefallen hätte.
Nachdem der zweite Schlauch geleert war, schlüpften sie unter ihre Schaffelle. Jeanne kuschelte sich ganz dicht an Raphael. Er strich ihr Haar aus dem Gesicht, zog das Fell unter ihr Kinn und sah hinauf zum Himmel. Die dunklen Wolken waren weitergezogen, die Sterne waren in der klaren Luft gut auszumachen. Ob Amicus irgendwo dort oben war und auf sie herunterschaute? Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Eine Prophezeiung erfüllt sich
A m Morgen des 16. März 1349 erwachte Maurice d’Aubrac im Bett der Witwe Dufaux. Sein Kopf war schwer von der Zecherei der vergangenen Nacht. Er betrachte die Dufaux, die neben ihm lag. Ihr Atem ging röchelnd, ihre Haut war weiß und welk wie die eines alten Weibes, obwohl sie noch keine dreißig Jahre alt war. Ihr Mund stand offen, und er sah die schwarzen Stumpen hinter den blutleeren Lippen, die einst weiße Zähne gewesen sein mochten. Es waren neun. Wie viel Wein hatte er getrunken, dass er mit diesem Waldschrat das Bett teilen wollte? Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Schänke, das Gesicht der Dufaux, das letzte Nacht völlig anders ausgesehen hatte, der Weg zu ihrem Haus und der Hahn, der seit Mitternacht ununterbrochen krähte. Er stand auf, schüttete Wasser aus einem alten Krug in eine Schale und wusch sich Gesicht und Hals. Anschließend stieg er in seine Kleider. Es klopfte. »Herein!«, rief d’Aubrac.
Roger Simoneau, seine rechte Hand, steckte den Kopf durch die Tür. »Hier steckst du«, sagte er.
»Offensichtlich«, raunte d’Aubrac. »Schließ die Tür, es zieht.«
Roger trat durch die Tür und schloss sie hinter sich. Er ging hinüber zu dem großen Bett und sah hinein. »Pfui Teufel!«,
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