Hexengericht
träufelte sie ihm einige Tropfen in den geöffneten Mund. Amicus schluckte leicht, wachte jedoch nicht auf.
»Was ist geschehen?«, fragte Jeanne.
Raphael berichtete ihr in wenigen Worten.
»Reden wir später weiter«, sagte Jeanne. Mit einem feuchten Tuch säuberte sie Amicus’ Gesicht und Hals von dem vielen Blut.
»Er wacht auf!«, rief Pierre, der schnaufend neben Raphael stand.
In der Tat. Amicus öffnete die Augen einen Spalt. »Was …« Er brach ab, und Luna gab ihm etwas Tee zu trinken. »Was … mache ich hier? Wir waren in Aubignas …«
»Magnus«, sagte Pierre.
»Magnus?«, fragte Amicus. Dann zeigten seine Augen Verstehen. »Dieser verdammte …« Er wollte sich aufrichten, brach aber mit einem Schmerzensschrei zusammen.
»Bleibt ruhig liegen«, sagte Jeanne. »Ihr seid schwer verletzt.«
Amicus begann am ganzen Körper zu zittern. Seine Zähne klapperten wie Mühlenräder. »Mir ist so kalt«, sagte er.
Jeanne zog ihm die Schaffelle bis zum Kinn. Zärtlich streichelte sie seine Wangen. Alle knieten jetzt um Amicus herum. Luna setzte sich hinter ihn, um seinen Kopf auf ihren Schoß zu betten. Keiner der Freunde war fähig, irgendetwas zu sagen. Alles, was sie für Amicus tun konnten, war, bei ihm zu bleiben bis zum Schluss. Raphael war betrübt, dass Amicus nicht die Sterbesakramente aus seiner Hand empfangen konnte. Aber er hatte kein geweihtes Öl, um die letzte Ölung vorzunehmen. So blieb ihm nur, für die Seele des Freundes zu beten.
Noch immer zitterte Amicus wie Espenlaub. Er sah zu Jeanne. »Ihr seid eine gute Frau, Madame«, sagte er. »Ich habe stets Euren Humor genossen und Euren Mut bewundert. Es war mir eine Ehre, an Eurer Seite zu stehen.«
Jeanne weinte. »Sprecht nicht so, Amicus. Bitte, nicht.«
Sein Blick wanderte weiter zu Pierre. »Du bist ein tapferer Bursche, alter Freund. Hast das Herz am rechten Fleck. Behalte auf ewig deine kindliche Neugier, und tritt für andere ein, wenn ihnen Unrecht widerfährt.«
Pierre war nicht in der Lage zu antworten. Fassungslos schüttelte er den Kopf und starrte den sterbenden Freund aus großen, feuchten Augen an.
»Bruder Raphael«, fuhr Amicus fort. »Vergebt mir all die Schwierigkeiten, die ich Euch bereitet habe. Ich war nur allzu oft ein Narr. Ihr seid ein Mann, wie ich es gern gewesen wäre. Geradlinig und in allem, was Ihr tut, von unerschütterlicher Ehrlichkeit. An jedem Tag unseres großen Abenteuers habe ich Euch dafür hoch geachtet. Habt Dank, dass ich all dies mit Euch erleben durfte.«
»Ich habe Euch rein gar nichts zu vergeben, mein Freund«, sagte Raphael mit versagender Stimme. »Vielmehr habe ich Euch zu danken. Ohne Euch wäre keiner von uns bis hierher gekommen.«
Amicus lächelte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und schaute zu Luna auf. »Luna, liebstes Kind. Du bist ein einzigartiges Geschöpf. Mal verschlossen wie eine Blume in der Nacht, dann stürmisch wie ein tosender Wasserfall. Ein Mann bräuchte einhundert Leben, um dich auch nur annähernd zu verstehen.« Er hustete heftig, und ein Schwall schwarzes Blut ergoss sich über die Felle.
Luna senkte den Kopf und legte ihre Lippen an Amicus’ Ohr. »Es ist Zeit zu gehen«, flüsterte sie sanft. Es klang wie das Singen einer Nachtigall. »Doch wir sehen uns wieder. Irgendwann. Das verspreche ich dir, lieber Amicus. Eve wartet nun auf dich. Geh zu ihr. Geh zu Eve, Amicus. Geh.«
Amicus’ Atem wurde mit jedem Zug flacher. Er schloss die Augen. Jeanne und Raphael legten ihre Hände in die seinen. Noch erwiderte er den Druck zitternd. Einige Atemzüge später erschlafften die starken Finger, und sein Kopf sank zur Seite. Amicus war tot.
Bleierne Schwere fiel über die Freunde. Jeanne sackte schluchzend zusammen. Erst weinte sie leise, dann lauter und immer lauter. Pierre stand auf und ging einige Schritte in den Wald hinein. Raphael schloss die Augen und betete leise. Und Luna? Sie lächelte und streichelte unablässig das Gesicht des toten Freundes. »Er ist nun bei Eve«, hauchte sie. »Es ist so wunderschön.«
Eine Weile saßen sie so bei Amicus. Jeder nahm auf seine Weise Abschied. Langsam bedeckte der Schnee die Leiche. Irgendwann kehrte Pierre zurück und setzte sich neben Luna, die noch immer mit geschlossenen Augen Amicus’ Gesicht streichelte. Kopfschüttelnd betrachtete er den toten Freund.
Als der Abend hereinbrach, stand Raphael auf. »Es ist an der Zeit«, sagte er, und jeder verstand, was er damit meinte.
Gemeinsam hoben sie den
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