Hexengericht
entgegnete d’Aubrac. »Gehen wir weiter. Ich habe Hunger.«
Sie kauften Eier, Speck, Käse und Dünnbier. Alsdann kehrten sie erneut in die Backstube zurück. Wie versprochen, stand eine Unmenge Brot für sie bereit. Dem Bäcker war sein Missgeschick derart unangenehm, dass er für das Brot keinen Sou berechnen wollte.
So gingen d’Aubrac und Roger in ihr Lager vor den Toren der Stadt. Drei von d’Aubracs Männern saßen vor den Zelten an einem Feuer, drei weitere fanden sie in den Zelten schlafend. Die anderen fünf mussten noch in der Stadt sein. Als sie ihren Anführer sahen, standen sie auf.
»Hier habt ihr euren Fraß!«, rief d’Aubrac und warf den Männern das Brot vor die Füße. Roger legte den Sack mit den übrigen Naturalien daneben. Gierig griffen die Männer danach.
Der Tumult im Lager weckte die Schlafenden. Müde traten sie aus den Zelten. Als sie aber den üppigen Schmaus erblickten, waren sie plötzlich hellwach und stürzten sich darauf.
»Hauptmann«, sagte einer der Soldaten kauend, »wie lange bleiben wir noch in Carcassonne?«
»Frag nicht, sondern friss!«, herrschte d’Aubrac ihn an.
»Die Frage ist durchaus berechtigt, Maurice«, raunte Roger seinem Freund zu. »Seit drei Monaten sitzen wir hier. Langsam kommt bei den Männern Langeweile auf. Es sind Soldaten, keine Bauern.«
»Wollt ihr zurück zu den Engländern?«, rief d’Aubrac. »Dann geht zu König Philippe und ersucht ihn, den Waffenstillstand zu beenden.« Er holte einen Humpen aus seinem Zelt, füllte ihn mit Dünnbier und trank ihn leer.
Die Männer sahen betreten zu Boden und kauten still ihr Brot.
Nach einer Weile kehrten die übrigen Männer zurück. Auch sie langten hungrig zu. Anschließend legten sich alle neben ihre weidenden Pferde in die warme Frühlingssonne, um zu ruhen.
Zur Mittagszeit brachen zwei der Soldaten in den Wald auf, um etwas für ein warmes Mittagsmahl zu erlegen.
»Sie sind fett geworden«, sagte d’Aubrac zu Roger, während er ihnen nachsah.
Zwei Stunden später waren die beiden wieder im Lager. »Magere Ausbeute«, sagte einer und leerte den Sack auf seinem Rücken vor d’Aubracs Füßen aus. Das Blut einer toten Eule befleckte die Stiefel des Hauptmanns.
D’Aubrac schrie auf und sprang zur Seite. »Das ist unmöglich!«, rief er mit weit aufgerissenen Augen.
»Was ist mit dir, Maurice?«, fragte Roger.
»Die Eule!«, rief d’Aubrac. »Erst der Hahn, der nachts kräht, dann der Bäcker, der morgens schläft. Und jetzt die Eule, die mittags stirbt.« Er sah zur Sonne hinauf. Sie war klar am wolkenlosen Himmel auszumachen.
»Was meinst du?«, fragte Roger weiter.
D’Aubrac beruhigte sich. Zufall, alles Zufall, dachte er. Was sollte das schon bedeuten? Während die Männer die Eule rupften und über dem Feuer brieten, legte er sich in das Gras und schaute in den Himmel. Die Sonne ließ er dabei nie aus dem Blick. Schließlich nickte er ein.
Irgendwann weckte ihn tosender Tumult. Die Männer brüllten und liefen aufgeregt durcheinander, die Pferde wieherten und scheuten. Aus der Stadt drangen Schreie zu ihnen herüber. Sofort war d’Aubrac auf den Beinen. Er suchte Roger und fand ihn in seinem Zelt unter eine Decke versteckt. Nur die Füße schauten hervor. D’Aubrac trat ihm in den Hintern. »Roger!«, rief er. »Komm da heraus!«
Vorsichtig lugte Roger unter der Decke vor. »Maurice!«, rief er. »Beeil dich und suche dir ein Versteck.«
»Seid ihr denn alle völlig übergeschnappt?«, fragte d’Aubrac.
»Schnell, wenn dir dein Leben lieb ist!«
»Was zum Teufel ist denn nur mit euch los?«, polterte d’Aubrac.
»Die Welt geht unter«, flüsterte Roger.
»Wenn die Welt untergeht, nützt dir die Pferdedecke auch nicht viel.«
»Sie ist immer noch besser als nichts«, wimmerte Roger und zog den Kopf wieder ein.
Mit einem Ruck riss d’Aubrac Roger die Decke weg, packte ihn unter den Achseln und hob ihn auf die Füße. »Roger, du sagst mir jetzt auf der Stelle, was all der Aufruhr zu bedeuten hat. Wird’s bald!«
Roger nahm d’Aubrac an die Hand und führte ihn zum offen stehenden Durchgang des Zelts. Dann zeigte er in den Himmel – zur Sonne hinauf. D’Aubrac stockte der Atem, und ihn selbst überkam das Bedürfnis, sich unter die alte Decke zu hocken. Ein Teil der Sonne war verschwunden. Ein dunkles Loch klaffte auf einer Seite. »Was, zum Teufel …?«, murmelte er und trat aus dem Zelt. Um ihn herum herrschte heilloses Durcheinander. Seine Männer liefen
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