Hexengericht
großen Mönch nicht, dabei kannte er alle Mönche der Diözese. Was also tat dieser Mann dort? Zwar war es durchaus möglich, dass er ein Bote war oder in sonst irgendeiner Mission unterwegs, aber Raphael glaubte zu wissen, warum er dort am Ufer stand: Der Grund war er, Raphael, selbst. Jeanne hatte also Recht. Gousset hatte ihn verraten, und schon einen Tag später war man ihm auf der Spur. Auf seine Stirn trat Schweiß, der sofort gefror. Er wischte mit dem Ärmel darüber.
»Ihr seht besorgt aus«, sagte Jeanne.
Soll ich es ihr sagen, überlegte Raphael. Er entschied sich dagegen, um sie nicht zu beunruhigen. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass er sich irrte. Daher antwortete er, ohne den Blick von der Gestalt am Ufer zu wenden: »Es ist nur die Erschöpfung, Madame. Nur die Erschöpfung.« Er zwang sich, den Blick von dem Dominikaner zu wenden. Stattdessen richtete er sein Augenmerk auf das gegenüberliegende Ufer der Seine, auf das die Fähre langsam zuschaukelte.
Ihren Begleitern voran ritt Luna durch die mächtigen Stadttore von Les Andelys. Allerlei Volk und Gesindel war auf den Straßen. Es schien Markttag zu sein. Die großen Fuhrwerke der Händler schoben sich durch die Straßen und Gassen, die Fischer und ihre Frauen trugen schwere Körbe mit zappelnden Fischen zum Marktplatz.
Luna hielt ihr Pferd an und schaute sich um. Sie schien irgendetwas zu suchen – oder irgendjemanden.
»Worauf warten wir?«, fragte Amicus.
Luna antwortete nicht. Sie suchte weiterhin die Menge ab. »Wir reiten zum Fluss.«
Pierre blickte sie besorgt an. Da war etwas an diesem Mädchen, das gänzlich anders war als bei allen Menschen, die er je getroffen hatte. Und das waren bei Gott viele gewesen. Sie schien oft sehr fern; nicht im Hier und Jetzt, sondern seltsam entrückt. Vermutlich liegt es am Tod ihrer Mutter, dachte Pierre. Niemand konnte ein derart grausiges Bild sehen, ohne Schaden zu nehmen.
Kurz bevor sie den Fluss erreicht hatten, wurde Luna unruhig. Ihr Blick war auf einen Mönch geheftet, der die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, sodass Pierre sein Gesicht nicht sehen konnte. Er stand neben einer in feinsten Zwirn gekleideten Dame auf der Fähre.
Da rief Amicus: »Sie hat ja schon abgelegt!«
»So bleibt uns Zeit für ein ausgedehntes Mahl, bis sie wieder zurück ist.«
Nachdenklich wiegte Amicus den Kopf. Dann lächelte er. »Nicht übel.«
Sie ritten wieder in die Stadt. Neben dem Rathaus erspähten sie eine Schänke, aus der einladende Düfte drangen.
»Seht!«, rief Amicus. »Jetzt gibt es endlich was zwischen die Zähne!« Er sprang aus dem Sattel und stürmte durch die Tür wie ein Rammbock.
In der Schänke saßen nur wenige Leute. Verlegen lächelnd bot Pierre Luna einen Stuhl an. Er nahm erst Platz, nachdem sie es bequem hatte.
»Wirt!«, rief Amicus.
Der Wirt, ein alter Mann mit krummem Rücken und krummen Beinen, eilte herbei. Amicus orderte Wein, Käse, Brot, Schinken, Hühnchen in Rotweinsauce, Wildbret und Barsch. Pierre war mit Ruetschart zufrieden, Luna aß Püree von dicken Bohnen. Von Magnus’ Geld ließ es sich wahrlich gut leben.
Während des Festschmauses fiel kaum ein Wort. Amicus hatte nur Augen für die Speisen und Pierre nur für Luna. Jedoch versuchte er mühevoll, seine Gefühle zu verbergen. Gelegentlich schaute Luna zu einem der kleinen Fenster. Sie beobachtete die Leute, doch schien sie durch sie hindurchzusehen.
Den letzten Bissen noch zwischen den Zähnen, fragte Amicus: »Wie geht es nun weiter?«
»Wir reiten nach Digny«, sagte Luna.
»Digny?«, echote Amicus. »Was wollen wir in Digny?«
»Wir übernachten dort. Morgen.«
»Warum?«, fragte Amicus weiter.
Sanft legte Luna eine Hand auf Amicus’ Arm. »Vertrau mir, lieber Amicus«, sagte sie, und Amicus schluckte schwer. »Bitte, vertrau mir.«
Pierre war, als gerate Amicus in Lunas Bann. Die gerunzelten Brauen entspannten sich, der Mund öffnete sich leicht, die Schultern senkten sich. Schon glaubte Pierre, Luna hätte ihn erobert, aber so leicht erlag Amicus weiblichen Reizen nicht. Schlagartig zog er seinen Arm unter Lunas Hand hervor. »Verdammt!«, fluchte er. »Ich will endlich wissen, was wir hier tun! Warum reiten wir nach Digny? Warum überhaupt gen Süden? Wo liegt unser Ziel, und was willst du dort tun? Ich habe das Gefühl, dass wir auf einem äußerst gefährlichen Abenteuer sind. Und wenn ich mein Leben riskiere, will ich wissen, wofür!«
Pierre hielt den Atem an. Er war nicht
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