Hexengericht
sie sah. Sie streichelte ihn kurz, dann war das Pferd auch schon gesattelt. Sie schaute sich nicht um, wagte keinen Blick zurück zu dem Haus, in dem sie seit Jahren eine Gefangene gewesen war. Les Andelys hieß das Ziel.
Der finstere Mönch
N ach einer kurzen, unruhigen Nacht in einem Gasthaus am Rande von Les Andelys stand Raphael zeitig auf. Bei einem Kartografen erstand er eine Karte und ritt anschließend zum Hafen. Am Ufer der Seine fand er den Fährmann, der nachdenklich auf den Fluss starrte. »Seht Euch das an«, sagte der Fährmann.
Raphael folgte dem Blick über den Fluss. Vier Kähne mit jeweils sechs Mann an Bord trieben auf der Seine dahin. Erst jetzt bemerkte er die gemächlich treibenden Eisschollen, die die Männer mühselig mit schweren Äxten und Hämmern zerschlugen. Eine unglaubliche Plackerei.
Der Fährmann wandte sich Raphael zu. »Ihr wollt über den Fluss, Bruder? Da müsst Ihr wohl noch eine Weile warten.«
»Wann, meint Ihr, ist die Seine wieder schiffbar?«, fragte Raphael.
Nachdenklich wiegte der Fährmann den Kopf. »Ihr habt gewiss noch Zeit für ein ausgedehntes Mittagsmahl. Mein Bruder hat eine Schänke gleich neben dem Rathaus. Sagt ihm, ich schicke Euch, und Ihr werdet fürstlich bewirtet. Ich lasse Euch wissen, wann die Fähre übersetzt.«
»Habt Dank, guter Mann«, sagte Raphael. Er nickte grüßend und schritt den Pfad am Abhang hinauf zurück zu seinem Pferd. Mit dem Ostwind drang der grauenvolle Gestank der Gerberwerkstätten in seine Nase. Es mussten Sämischgerber sein, die am Stadtrand angesiedelt waren – der beißende Fischtran war nicht zu verkennen. Dazwischen der Verwesungsgeruch der noch nicht von Fleischresten und Haaren gesäuberten Häute. Am Fluss vor den Toren der Stadt mussten dutzende Gerber, Seifensieder und Kürschner am Werke sein. Der durchdringendste Geruch allerdings kam von den Färbern, die zum Beizen ihrer Stoffe reichlich Alaun, Kupfervitriol und Kuhmist verwendeten. Es war einfach ekelhaft. An den eisfreien Stellen der Seine schwammen die Abfälle der Werkstätten: faulige Fleischbrocken in ätzender Gerberlohe, Dung, weißer Ziegentalg, Buchenasche. Am Ufer bildeten die Alaunkristalle widerlichen weißen Schaum. Dazwischen trieben tote Forellen mit dem Bauch nach oben. Das Wasser war derart sauer, dass weder Hunde noch Vögel zur Tränke kamen. Nur die hartgesottenen Waschweiber setzten einen Fuß in das Gewässer.
Raphael schüttelte sich und wandte sein Pferd Richtung Stadtkern. Die Schänke war schnell ausgemacht. Drinnen war es behaglich warm, und es roch nach gebratenem Wild. Die Gäste waren bunt und zahlreich. Neben einer Gruppe in fachmännische Unterhaltung vertiefte Jäger fanden sich hier Fuhrleute, Advokaten, Reisende und zwei Adelsmänner. Sie starrten den Mönch an wie ein fremdes Wesen.
Raphael nahm an einem freien Tisch am Fenster Platz. Er bemerkte die Blicke der Männer, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Schon kam der Wirt herbeigeeilt und verneigte sich. »Seid willkommen, Bruder. Wonach dürstet es Euch, und was beliebt Ihr zu speisen?«
»Gott zum Gruße, Herr Wirt«, sagte Raphael. »Euer Bruder, der Fährmann, schickt mich.«
»Ah«, machte der Wirt. »Dann seid hier doppelt willkommen. Ihr wartet wohl auf die Fähre?«
»Ja«, antwortete Raphael. »Die Seine ist noch zu stark vereist. Euer Bruder gab mir den Rat, bei Euch einzukehren.«
Der Wirt lächelte. »Das war gewiss ein guter Rat, Bruder. Womit kann ich Euch dienen? Vielleicht zuerst ein Püree von dicken Bohnen, danach unser berühmtes Huhn mit Dörrzwetschgen und Datteln, saftig mit Bauchspeck gebraten und herrlich gewürzt mit Zimt, Kardamom, Koriander, Ingwer und einem Hauch edlen Safran. Anschließend eine den Säften schmeichelnde Weinsuppe mit Zimtbrotwürfeln und zum Abschluss süße Krapfen mit Honig und Sauermilch übergossen.«
Raphael lief das Wasser im Munde zusammen. Seit Tagen hatte er nichts Richtiges in den Magen bekommen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas Warmes gegessen hatte. Allein: Sein Gelübde erlaubte ihm nicht, all diese famosen Speisen zu kosten. Er war ein Bettelmönch, kein Bischof oder gar Kardinal. »Eure Speisen hören sich sehr schmackhaft an«, sagte er. »Doch bin ich zufrieden mit einer Schale Hirsebrei. Dazu reicht mir einen Krug Dünnbier.«
»Wie Ihr wünscht«, brummte der Wirt und verschwand.
Die Tochter des Wirts, ein langes, dürres Geschöpf mit gelben Zähnen, reichte Raphael zwei
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