Hexengold
unbequeme Sitzhaltung oder die ungemütliche Enge im Wagenkasten. Selbst das laute Fluchen des Kutschers Gustav und das harsche Peitschenknallen auf die Widerriste der Zugochsen vermochten sie nicht aufzuwecken. Fasziniert strich Magdalena der Dreizehnjährigen über den rotblonden Lockenschopf. Carlottas Gesicht hatte etwas Anrührendes. Die Augenlider zitterten leicht, die zarte Haut zeigte sich von violetten Adern durchzogen. Bei jedem Luftholen bebten die Nasenflügel.
»Dass du das erträgst!« Theatralisch wischte Adelaide sich die Stirn. Ihre sonst so melodische, dunkle Stimme klang brüchig. Das raue Knirschen der Räder auf dem steinigen Untergrund hatte abgefärbt. »Starr wie Mauersteine hocken wir jeden Tag auf der harten Bank. Abends kann ich mich kaum mehr rühren. Ich fühle mich jetzt schon wie eine alte Frau, der alles wehtut.« Zur Bestätigung drückte sie sich die Hände in den Rücken und verzog die rot geschminkten Lippen. Das schwarze, offen auf die Schultern fallende Haar umrahmte ihr Madonnengesicht. Im fahlen Licht unter der Wagenplane wirkte die Haut noch weißer als sonst. »Unerträglich, dann noch als Kopfstütze meines Kindes zu dienen. Dieses enge Aufeinanderhocken halte ich einfach nicht mehr aus!«
Still lächelte Magdalena in sich hinein. Trotz der brüsken Worte hatte sie die Sehnsucht in Adelaides dunklen Augen längst entdeckt. Der Blick, den sie auf die schlafende Carlotta warf, verriet, wie sehr sie nach einer ähnlichen Zweisamkeit gierte.
»Schade, dass Mathias jeden Tag bei diesem Niklas auf dem zweiten Fuhrwagen mitfährt«, stellte Magdalena fest. »Der raue Bursche setzt deinem Jungen Flausen in den Kopf.«
»Ein Junge in seinem Alter muss sich an andere Burschen halten. Unvorstellbar, meine Liebe, dass er mir noch als erwachsener Mann am Rockzipfel hängt. Gerade jetzt, ohne Vater, hat er es schwer genug, sich männliche Vorbilder zu suchen.« Mit dem Zipfel ihres Umhangs tupfte sich Adelaide übertrieben die trockenen Augenwinkel. »Mit Töchtern ist es völlig anders. Mir war es leider nicht vergönnt, ein kleines Mädchen aufzuziehen. Viel zu schnell sind mir die zarten Geschöpfe nach der Geburt weggestorben. Wer weiß, wie es geworden wäre, wenn eines von ihnen überlebt hätte.« Von neuem zückte sie den Mantelzipfel und wischte die Augenwinkel. Ihr Blick glitt in die Ferne. Schließlich gab sie sich einen Ruck, wandte sich um und strich Magdalena über das Knie: »Vergiss nie, meine Liebe, ein Kind kann dir den geliebten Ehemann nicht ersetzen. Erst recht nicht in einer Zeit, in der dich sein plötzlicher Aufbruch in so viele Fragen und Zweifel stürzt. Das Kind ist ein Trost, nicht mehr und nicht weniger.«
»Keine Sorge.« Magdalena zog ihre Knie enger an die Bank, um der Berührung mit Adelaide auszuweichen. »Den Unterschied zwischen Gemahl und Tochter kenne ich sehr wohl und werde es gewiss unterlassen, meinem Kind eine solche Bürde aufzuladen.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Dass man seinen Mitreisenden in dem engen Wagenkasten nicht entrinnen konnte, sondern sich den Gesprächen wehrlos ausgeliefert sah, war der einzige Nachteil des wochenlangen Unterwegsseins.
»Ja, ja, und jetzt gerade ist es vor allem das Reden mit mir, das du gern unterlassen willst. Dabei könnte es uns beiden die Zeit ein wenig verkürzen. Ach, wie ich es hasse, dieses ewige Stillsitzen!« So gut es in der Enge möglich war, räkelte Adelaide sich. »Wir kommen viel zu langsam vorwärts. Gut eine Woche länger als geplant sind wir schon unterwegs. Sogar am gestrigen Karfreitag mussten wir fahren.« Sie hielt kurz inne, schlang die Hände ineinander wie zum Gebet und senkte den Blick. Magdalena fürchtete schon, sie schlüge gleich ein Kreuz vor der Brust und betete. Dann aber hob Adelaide den Kopf und sprach weiter: »Mich wundert, dass unsere Begleiter das alles so einfach hinnehmen. In dem Tempo werden sie Leipzig nicht mehr rechtzeitig zu Beginn der Ostermesse erreichen. Es würde ihnen nicht einmal gelingen, wenn sie die heilige Osternacht durchreiten.«
»Mach dir nicht zu viel Sorgen um dein Seelenheil, weil du die Feiertage nicht einhalten kannst. Dafür wirst du nicht gleich in der Hölle schmoren.« Kaum merklich zog Magdalena die Augenbraue nach oben. Die plötzliche Frömmigkeit passte nicht zu Adelaide. Rasch fuhr sie fort: »Eine solche Reise birgt immer Überraschungen, die Verzögerungen verursachen. Unsere Begleiter sind zudem nicht zum
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