Hexengold
hielt sie fest und verhinderte, dass sie hinschlug. Eher missmutig als dankbar schüttelte sie ihn ab und rannte weiter. Gewiss war es ein Leichtes für ihn, sie zu überholen. Seine langen Beine holten weit aus. Ihr zuliebe aber drosselte er sein Tempo, achtete darauf, ob sie Schritt hielt, und wartete kurz, bis sie zu ihm aufschloss, und lief dann wieder ein Stück hinter ihr, als wollte er sie gegen den Verfolger abschirmen.
»Verdammtes Pack!«, hörte sie den Bäckergesellen noch einmal wütend brüllen. Als sie knapp hinter dem Brückenkopf anhielt, erspähte sie aus den Augenwinkeln, dass er sich umdrehte und zum Karren zurückrannte.
»Wird höchste Zeit!«, stellte Mathias fest und blieb neben ihr stehen. Lachend stemmte er die Hände in die Seiten. »Während der Trottel seinen Karren im Stich gelassen hat und uns beiden wegen zwei Fladen nachgelaufen ist, haben ihm die anderen Langfinger längst die Körbe geplündert. Sein Meister wird sich freuen, wenn ihm alles geklaut wurde.«
Schwungvoll trat er gegen einen schrumpeligen Apfel, der im Rinnstein lag. Eine Katze zischte aus einem Hoftor und jagte der vermeintlich lohnenden Beute hinterher. Ein Hund bellte, konnte sich aber nicht von seiner Kette befreien.
»Danke!«, rang sich Carlotta ab und wagte kaum, den Blick zu heben. Eigentlich wusste sie nicht, wieso sie ihm überhaupt dankte. Er hatte sie schließlich erst zu dem Diebstahl angestiftet. Wie töricht von ihr! Sie hätte sogar ausreichend Geld gehabt, die Wecken zu bezahlen. Ihretwegen bekam der Bäckerbursche vermutlich nicht nur wegen zwei Fladen, sondern wegen des Verlusts eines ganzen Karrens voll Backwerk gewaltigen Ärger. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und wäre zu dem Ärmsten zurückgelaufen. Vielleicht nutzte es, wenn sie mit dem Meister sprach und ihm alles erklärte. Halb hatte sie sich bereits umgewandt, da zögerte sie abermals. Der Bäcker würde ihr wohl kaum Glauben schenken. Sie war eine gemeine Diebin und hatte ihn bestohlen! Nachdenklich betrachtete sie das Hefegebäck in ihrer Hand. Längst waren die Fladen kalt. Der Appetit darauf war ihr ohnehin gründlich vergangen.
»Was ist? Schlechtes Gewissen?« Mathias’ dunkle Augen funkelten unter den für einen Jungen seines Alters erstaunlich buschigen Augenbrauen. »Vergiss es. Der Bursche war doch selbst schuld. Soll halt nicht schwatzen, sondern besser auf sein Zeug aufpassen. Komm, ich zeig dir ein Plätzchen, wo wir die süßen Dinger in Ruhe genießen können.«
Ohne ihr Einverständnis abzuwarten, zog er sie mit sich fort und pfiff vergnügt vor sich hin.
Sie wusste selbst nicht, wieso sie mit ihm ging. Es war wohl eine törichte Mischung aus Neugier und Furcht, die sie dazu verleitete, ähnlich der Situation damals in Frankfurt, als sie ihm zu dem halb abgerissenen Haus in der Sandgasse gefolgt war. Wie ein Lamm ging sie neben ihm her, warf ihm gelegentlich einen Blick von der Seite zu. Die zweieinhalb Wochen Fahrt auf dem Fuhrwagen hatten seine blasse Haut merklich dunkler werden lassen. Auch sonst waren deutliche Veränderungen mit ihm vorgegangen. Der erste Bartflaum spross am Kinn. Wie nicht anders zu erwarten, waren es borstige, schwarze Haare. Die große Nase ragte kantiger aus dem schmalen Gesicht. Die Züge um Mund und Augen hatten nichts Kindliches mehr, wirkten entschlossen, fast schon erwachsen. Auch seine Bewegungen waren weniger schlaksig. Ein seltsamer Kitzel erfasste sie, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich einige Mädchen kichernd nach ihm umdrehten. Kein Zweifel: Er fiel auf.
Insgeheim stellte sich Carlotta vor, was die Mädchen über sie dachten. Sie mochten ein seltsames Paar abgeben: der dürre, lange Bursche mit dem glatten, schwarzen Haar, gekleidet in eine dunkle Tracht aus teurem Tuch, und daneben das zierliche, rotblondgelockte Mädchen mit einem schlichten Kleid aus grobem, hellgrünem Samt. Beide trugen sie keine Kopfbedeckung und gaben sich nicht die geringste Mühe, unauffällig und zurückhaltend aufzutreten. Selbstbewusst reckte Mathias gar den Kopf und sah die Entgegenkommenden direkt an. Eine ältere Frau schüttelte den Kopf. »Schäm dich, Mädchen! Hast du gar keinen Anstand mehr?« Mathias hörte das ebenfalls. Hämisch grinsend fasste er nach Carlottas Hand und hauchte ihr einen Kuss aufs Haar. Die Frau wandte sich empört ab.
»Lass das!« Verärgert riss Carlotta sich los.
»Vergiss nicht, du bist eine Diebin und hast nichts Besseres
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