Hexengold
Krieg zwei Seiten. Ich habe ihn zudem als Zuflucht und Heimat erlebt. Es gibt in der Tat Zeiten, in denen ich mir das Leben im Tross zurückwünsche.«
Ungläubig starrte Carlotta sie an. Der Blick aus ihren tiefblauen Augen war von derselben Tiefgründigkeit, mit der Eric sie so oft verzaubert hatte. Magdalenas Ton wurde zärtlicher. »Darin haben die Menschen gelebt, die mir bis heute am meisten bedeuten. Was gäbe ich darum, sie einmal wiederzusehen! Sie haben mir Halt gegeben, Geborgenheit geschenkt und Vertrauen entgegengebracht. Wir wussten nie, was der nächste Tag uns bringen würde. Stattdessen haben wir gelernt, jeden Moment, der uns in Ruhe vergönnt war, zu nutzen. Genauso haben wir gelernt, die anderen Menschen respektvoll zu behandeln, denn schon am nächsten Tag konnten wir auf sie angewiesen sein. Begann man unnötig Streit mit jemandem, war die Gefahr groß, sich wertvollen Beistand in der Not leichtfertig zu verscherzen.«
»Bislang dachte ich, die Menschen, die dir am meisten bedeuten, sind Vater und ich.« Carlotta schnappte nach Luft.
»Natürlich seid ihr beide das. Doch ich hatte auch ein Leben, bevor es dich gab. Und da war dein Vater nicht immer bei mir. Dafür waren damals andere Menschen an meiner Seite, die ich deinem Vater zuliebe aufgeben musste.« Bei den letzten Worten versagte ihr die Stimme. Sie wandte sich ab und sah in weite Fernen. Dann gab sie sich einen Ruck, wischte sich mit den Händen über das Gesicht und lächelte Carlotta aus tränenverschleierten Augen an.
»Eins darfst du eben nie vergessen: Dem Leben so nah am Krieg wohnt eine besondere Freiheit inne. Gerade uns Frauen eröffneten sich damals Möglichkeiten, die sich uns im bürgerlichen Dasein nie geboten hätten. Nie habe ich mich als Hausfrau hinter Herd und Kindern verstecken müssen, sondern durfte zusammen mit meinem Meister sowie seinem zweiten Gehilfen Rupprecht als Wundärztin arbeiten. Keiner von beiden hat mich je anders behandelt, nur weil ich eine Frau bin, auch die anderen Leute im Tross und im Heer nicht. Als dein Vater kurz vor deiner Geburt für einige Jahre verschwunden ist, konnte ich sogar mit dir allein unbehelligt im Tross als Wundärztin leben. Während dieser Zeit bin ich weder schlecht angesehen gewesen, noch hat mich einer aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Im Gegenteil: Weil ich gute Arbeit an den Schwerverletzten geleistet habe, habe ich meinen hoch angesehenen Platz im Tross stets behalten. Wundert es dich also noch, dass ich Jahr für Jahr gern durch die Lande gezogen bin, immer nur von Gefecht zu Gefecht gelebt habe? Wir waren zwar nirgendwo zu Hause, nirgendwo so recht willkommen, aber dennoch glücklich, weil wir uns und unsere Freiheit hatten. Und wir wussten, dass es sinnlos ist, gegen das Schicksal aufzubegehren. Es hat ohnehin seine eigenen Pläne mit uns. Man muss es nehmen, wie es kommt, und stets das Beste daraus machen. Nach diesem Gefühl sehne ich mich jetzt oft zurück.«
Kaum merklich schüttelte Carlotta den Kopf.
»Auch du hast die ersten Jahre deines Lebens so verbracht«, fügte Magdalena hinzu und strich ihr eine rotblonde Locke aus dem Gesicht zurück unter das helle Kopftuch. »Aber du warst einfach zu klein, um dir lebhafte Erinnerungen daran zu bewahren.«
»Trotzdem ist der Frieden besser«, erwiderte Carlotta trotzig.
»Natürlich ist der Frieden besser, mein Kind.« Magdalena lächelte. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Aber nur, wenn er denn wirklich einmal eingekehrt ist. Und wo ist er das schon? So, wie ich ihn bislang erlebt habe, ist es immer nur ein vordergründiger Frieden, der den einen auf Kosten der anderen vorübergehend eine gewisse Ruhe beschert. Doch die währt selten lang. Zu hoch ist der Preis, den manche dafür zahlen müssen. Irgendwann kommen sie dahinter und setzen sich zur Wehr. Damit beginnt der Unfrieden von neuem, bis wieder andere die Last des teuren Friedens zu schultern haben und so weiter.«
»Das sagst du nur, weil du im Krieg aufgewachsen bist, dort deine Familie und Lehrmeister gehabt und lange Zeit nichts anderes kennengelernt hast.« Carlotta konnte ihre Empörung nicht länger verbergen. »Außerdem hättest du ohne den Krieg niemals Vater getroffen. All das Gute, das du im Krieg erlebt hast, hast du in den letzten Jahren auch in Frankfurt gehabt, gemeinsam mit Vater und mir: ein Zuhause, liebe Menschen um dich herum und deine Arbeit als Wundärztin. Das scheint dir viel weniger zu bedeuten.«
Carlottas Worte
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