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Hexengold

Hexengold

Titel: Hexengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Leise murmelte sie im Gedenken an die armen Seelen ein Vaterunser, schlug ein Kreuzzeichen und stolperte dann an der Reihe der Leichen entlang zum nahen Wald. Mathias musste dorthin geflohen sein. Er lebte und wartete irgendwo auf sie. Die Hoffnung trieb sie vorwärts, verlieh ihr die Kraft, die nächsten Stunden zu überstehen.
    Je weiter sie sich von dem grausigen Ort des Überfalls entfernte, desto leichter wurde ihr. Trotz des anstrengenden Marschierens verebbten allmählich die Schmerzen im Unterleib. Die Sonne blinzelte durch das lichte Laub des Birkenwalds. Bald hatte sie den höchsten Punkt erreicht. Adelaide querte einen kleinen Bach. Das kühle Nass schien ihr äußerst verlockend. Sie lauschte auf die Geräusche des Waldes. Zu ihren Füßen raschelte eine Maus durch das Gras. Ein Reh verharrte auf einer nahen Lichtung beim Äsen. Neugierig richtete es seine dunklen Augen auf sie. Die Gefahr eines neuerlichen Überfalls bestand offenkundig nicht mehr.
    Adelaide beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen und sich endgültig den Schmutz und die Pein der schrecklichen Nacht vom Leib zu waschen. Überrascht bemerkte sie nach dem erfrischenden Bad das hungrige Grummeln ihres Magens. Tropfnass schlüpfte sie wieder in Röcke und Mieder und machte sich über den mitgeschleppten Proviant her. Wie karg der war, wurde ihr erst bewusst, als sie sich auch danach noch immer hungrig fühlte. Im Weitergehen sammelte sie Beeren. Sie waren noch unreif. Die Säure zog ihr die Wangen zusammen. Angewidert spie sie sie wieder aus.
    Sie erreichte eine Lichtung. Aufgeschreckt sah sie sich um. Den dicken Eichenstamm dort links kannte sie. Sie drehte sich um die eigene Achse. Auch die Büsche kamen ihr vertraut vor, die Weggabelung dort vorne rechts sowieso. Sie war im Kreis gegangen! Wie lange aber lief sie schon so umher? Grübelnd schaute sie gen Himmel. Die Sonne entzog sich ihrem Blick. Stattdessen türmten sich dicke, weiße Wolkenberge auf. In der Ferne grollte Donner. Verzweifelt sank sie zu Boden. Die Beine schienen ihr schwer wie Blei. Keinen Schritt würde sie mehr gehen können. Den grausamen Überfall hatte sie also nur überstanden, um kurz darauf mitten im Wald, irgendwo zwischen Posen und Thorn, elend zugrunde zu gehen. Auf einen Schlag war ihr sämtliche Hoffnung genommen.
    »Steinackerin, welch Wunder: Ihr lebt!« Jemand tippte ihr auf die Schulter. Die Stimme kannte sie. Abrupt fuhr sie herum und blinzelte Helmbrecht in die goldbraunen Augen. Konnte das sein? Nein, sie träumte nur. Sie legte den Kopf zurück auf die Knie und beschloss, weiterzuschlafen. Vielleicht waren sämtliche Ereignisse der letzten Tage und Wochen ein böser Traum, womöglich war gar das ganze letzte Jahr seit Vinzents Aufbruch aus Frankfurt pure Einbildung. An schlimme Träume war sie doch gewöhnt. Nach Italien wollten sie ziehen, warum nur immerzu Richtung Süden, wenn es auch im Nordosten so viel zu handeln gab? Nein, sie musste das alles träumen, eine andere Erklärung gab es nicht.
    »Verehrte Frau Steinacker, so hört mich doch!« Abermals rüttelte jemand an ihr. »Bei Gott, dem Allmächtigen, wie kommt Ihr hierher? Was macht Ihr hier, mutterseelenallein mitten im Wald?«
    »Lasst mich!«, versuchte sie ihn abzuwehren und hob dieses Mal nicht einmal mehr den Kopf. Sie wollte nichts mehr sehen und hören, sondern endlich die Augen aufschlagen und sich in ihrem vertrauten Bett zu Hause in der Sandgasse wiederfinden, den Gemahl auf dem Kissen neben sich, ihren Sohn in der Kammer gegenüber. Ihren Sohn! Mathias! Sie schreckte auf.
    Es war tatsächlich Helmbrecht, der vor ihr stand und sie anschaute. Ungläubig musterte sie ihn.
    Der Alptraum war doch noch nicht vorbei. Helmbrecht sah fürchterlich aus. Die linke Gesichtshälfte war angeschwollen, das Auge blutunterlaufen, entlang der Braue klaffte eine tiefe Wunde. Eine dicke Kruste Schorf zog sich an den Rändern entlang. Im halboffenen Mund zeigte sich eine frische Zahnlücke, die Lippen waren aufgebissen. Auf dem Kinn sprossen dunkle Bartstoppeln. Er musste einen gewaltigen Bartwuchs haben, was er sonst durch tägliche Rasur gut kaschierte. Nun wirkte es umso ungepflegter. Selbst den Hals hinab zog sich die unordentliche Spur. Adelaide sog den herben Schweißgeruch ein, der ihn umfing. Sein prächtiger Samtrock war zerrissen. Flecken und Schlammspritzer kündeten von den erbitterten Kämpfen, die hinter ihm lagen. Der rechte Arm hing kraftlos am Oberkörper herab. Beim zweiten

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