Hexenheide
für eine Rolle, wofür es früher gut war«, sagt Lenne schulterzuckend, »jetzt ist es eine kleine Brücke, über die man gehen kann.« Und kaum gesagt, ist sie auch schon auf der anderen Seite.
Marit holt tief Luft.
»Darf ich auch drüberlaufen?«, fragt Karim gut erzogen.
»Na, das musst du jetzt selbst wissen. Ich mache es auf jeden Fall nicht, ich bin viel zu schwer, und dann bricht es noch durch. Das Brett da sieht aus, als wäre es schon hundert Jahre alt.« Lennes Mutter geht zu einer Bank auf der anderen Seite des Wegs. »Geh du mal kurz gucken, ich setze mich hierhin.« Sie kramt in ihrer Jackentasche herum und bringt ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein.
»Komm schon, Karim!«, spornt Lenne ihn an, und sobald auch Karim über den Graben ist, rennen sie zusammen zur Wassermühle.
Sie sehen durch alle staubigen alten Fenster hinein, erkennen aber nicht viel, denn drinnen ist es dunkel und leer.
Lenne rüttelt an der Klinke einer schweren Holztür.
»Abgeschlossen.«
»Schade.«
Ein Fenster ist mit einem Holzladen zugenagelt. Karim zieht und zerrt ein bisschen an dem halb verrotteten Holz. Er dreht sich gerade um und will weggehen, als der ganze Fensterladen plötzlich mit einem lauten Krachen herabstürzt.
»Scheiße!«, schreit Lenne, und auch Karim springt vor Schreck einen halben Meter in die Luft. Aneinander festgeklammert rennen beide ein ganzes Stück von der Wassermühle fort, bleiben dann aber stehen und blicken sich um.
Karim erwartet fast, dass die ganze restliche Mühle einstürzen würde, und er zittert am ganzen Körper.
Doch es passiert nichts weiter.
Karim und Lenne schauen sich an und beginnen, etwas nervös zu kichern.
»Jetzt sieh dir mal an, was du da gemacht hast, Mann!«
»Ich hab nichts gemacht. Ich hab nur mal kurz an dem Brett gezupft.«
Lenne stößt Karim an. »He«, sagt sie, »da ist kein Fenster mehr drin. Kein Glas, meine ich.«
»Natürlich, deshalb war es ja auch zugenagelt.«
Lennes Gesicht heitert sich auf. »Wir können da reinklettern!« Sie läuft zurück zur Mühle und späht durch das Loch. »Hilf mir mal.«
Das Fenster befindet sich nicht so hoch über dem Boden, und innerhalb weniger Sekunden stehen alle beide in der alten Wassermühle.
Es ist ein kleiner stickiger Raum, und ihre Augen müssen sich erst an die Düsternis gewöhnen. Durch die verstaubten Fenster fällt nur wenig Licht.
»Eine Treppe.« Lenne zeigt darauf. »Wollen wir nach oben?«
»Sei aber vorsichtig!«, mahnt Karim. »Da fehlen jede Menge Stufen, und sie wird genauso verrottet sein, wie alles andere hier auch.«
Vorsichtig steigt Lenne die Holztreppe hoch, die knarrt und ächzt, aber zu halten scheint.
»Kannst du da oben was erkennen?«, ruft Karim.
»Komm selbst hoch und sieh es dir an!«, ruft Lenne zurück.
Es gibt viel zu sehen. Hölzerne Balken und Pfosten. Große eiserne Zahnräder. Über allem liegt eine dicke Staubschicht, und vor allem hängen dort auch schrecklich viele Spinnweben von der Decke bis zum Boden.
»Es sieht aus wie das Innere einer Riesenuhr«, murmelt Karim. »Was ist das denn?«
»Mühlsteine«, erklärt Lenne. »Aber ich weiß auch nur, dass dann, wenn sich das Mühlrad draußen gedreht hat, sich das alles mitgedreht hat und dann zwischen den großen runden Steinen das Getreide gemahlen wurde.«
»Getreide?«
»Ja, Getreide, du weißt doch, das, aus dem das Mehl gemacht wird, um Brot zu backen?« Lenne sieht Karim mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzig an.
»Ach … so.« Er nickt.
Draußen zieht eine dicke Wolke vor die Sonne, und auch in der Mühle wird es mit einem Mal dunkler.
Von unten hören sie ein Quietschen.
»Was war das?«, fragt Lenne.
»Wahrscheinlich kommt deine Mutter nachsehen, wo wir geblieben sind.«
Lenne geht zurück zur Treppe und steigt vorsichtig wieder nach unten.
Karim sieht sich noch einmal um. Schon komisch, dass er gar nicht gewusst hat, dass Mehl auf diese Art …
»Karim!«, erklingt Lennes Stimme schrill von unten.
Karim fährt zusammen. »Was ist denn?« Warum klingt Lenne so komisch? So schnell es geht, hastet Karim die baufällige Treppe nach unten.
Wie versteinert steht Lenne mitten in dem leeren Raum. Sie zeigt auf etwas. Karims Blick folgt ihrem ausgestreckten Finger. »Da kriegst du doch …«
Die Tür der Mühle steht sperrangelweit offen.
»Die war doch gerade noch fest verschlossen?«, fragt Lenne mit einem kleinen Knick in der Stimme.
»Wir haben da ordentlich dran gerüttelt«,
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