Hexenheide
euch auch noch ein bisschen Geschichte bei, allerdings vermengt mit einer ganzen Menge Unsinn.«
Lenne hat währenddessen immer finsterer vor sich hin gestarrt. Sie sitzt angespannt mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Stuhl.
Da klingelt es, und alle stürmen aus dem Klassenzimmer.
Lenne ist eine der Ersten, die die Schule verlässt.
»Lenne!« Karim rennt ihr nach. »Lenne, was ist denn?«
Sie bleibt stehen und sieht ihn mit einer Wut in den Augen an, die Karim nicht begreift.
»Hab ich was falsch gemacht?«
»Wie die alle reden, erst die Frau in der Bücherei und jetzt auch Herr Paul, dass das alles Unsinn und dummes Zeug wäre. Und dann lachen sie auch noch, wenn sie erzählen, dass es mit diesen Frauen meistens ganz obermies zu Ende gegangen ist!«
»Ja, na ja … das hab ich zu der Frau in der Bücherei doch auch schon gesagt, dass ich die Sache mit dem Ertränken überhaupt nicht lustig finde«, beeilt Karim sich zu sagen.
Lennes Blick bohrt sich in seine Augen. Eine halbe Minute stehen sie sich wortlos gegenüber.
»Ja … stimmt«, sagt Lenne schließlich besänftigt. »Du bist schon in Ordnung, Karim.«
»Oh, vielen Dank.« Karim reckt sein Kinn. »Und wer bist du eigentlich, um mich so zu beurteilen?«
Lenne dreht sich abrupt um – ihr dunkelblonder Pferdeschwanz peitscht Karim beinahe ins Gesicht – und geht einfach weg. Er wartet ein paar Augenblicke, bis er ihr folgt. Es geht ihm gegen die Ehre, ihr wie ein Schoßhündchen nachzulaufen, daher sieht er zu, dass er ein oder zwei Meter Abstand zu ihr hält, obwohl er eigentlich viel lieber wie üblich neben ihr gehen würde. Karim mag es überhaupt nicht, Streit zu haben, aber Lenne braucht auch nicht zu denken, dass sie einfach alles zu ihm sagen kann.
Inzwischen ist Lenne bei dem verbogenen Stacheldraht angekommen. Karim sieht, wie sie zielbewusst darübersteigt, und er will schon den Mund aufmachen, um ihr etwas zuzurufen. Er möchte lieber nicht mehr über die Heide gehen, erst recht nicht nach der Begegnung mit der weißhaarigen Frau an der Mühle. Aber er kann Lennes Gesicht schon vor sich sehen, wenn er das sagen würde – sie würde ihn einen Angsthasen nennen und auslachen. Zögerlich folgt er ihr. Und wenn er das nur macht, um sie zu beschützen, redet er sich ein. Stell dir doch mal vor, wenn ihr was passiert!
Lenne macht nicht den Eindruck, als bräuchte sie Schutz, so energisch, wie sie weitergeht. Ohne jede Scheu läuft sie durch den Birkenwald. Der graue Nebel, der über der Heide liegt, ist so dicht, dass man nur die Stämme der nächsten Birken erkennen kann, dahinter verschwindet alles im Nebel, der so dick wie Erbsensuppe ist.
Während Karim ihr hinterhergeht, laufen ihm kalte Schauder über den Rücken. Er ist noch nicht am ersten Baum vorbei, als er über eine Wurzel stolpert und der Länge nach hinschlägt. Lenne schaut sich nicht einmal um. Hat sie nicht gehört, wie er hingefallen ist? Ziemlich wütend rappelt Karim sich wieder auf. Noch während er sich den Sand von den Kleidern klopft –, was für ein Glück, dass es heute nicht geregnet hat! – wird seine Aufmerksamkeit von etwas Gelbem angezogen. Er schaut nach rechts, um zu sehen, was es ist. Unwillkürlich muss er plötzlich an all die Zeitungsberichte denken, die vor einigen Monaten erschienen sind.
Jorinde Munter. Am Tag ihres Verschwindens trug sie ein gelbes T-Shirt und Jeans. Die Leute wurden gebeten, nach einem Mädchen in diesem gelben Kleidungsstück die Augen offen zu halten.
Bei dem Abstand kann Karim nicht erkennen, was es ist, aber das Gelb hebt sich leuchtend von der braunvioletten Heide und dem Grau der Birkenstämme dahinter ab. Unsicher bleibt er stehen. Er will wissen, was es ist, er muss hingehen und nachsehen. Soll er Lenne rufen? Aber Lennes schwarze Jacke ist inzwischen nur noch ein Fleck im Nebel, der sich etliche Meter vor ihm herbewegt. Und er hat keine große Lust, hier auf der Heide herumzuschreien. »Ich mach das jetzt einfach«, sagt er zu sich selbst und rennt auf den gelben Gegenstand zu.
Nicht auszudenken, wenn es tatsächlich ein Stück von Jorindes T-Shirt ist! Ob er dann in die Zeitung kommt? Klassenkamerad von Jorinde findet einen Teil ihres T-Shirts. Er sieht die Schlagzeile schon vor sich.
Doch als er näher kommt, erkennt er zu seiner Enttäuschung, dass es nichts anderes ist als eine blassgelbe Blume. Anstatt sich gleich wieder umzudrehen, machen Karims Füße noch ein paar Schritte, bis er dicht vor der
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