Hexenheide
Karim lacht nervös. »Wer weiß, was du dann noch alles anstellen kannst!«
»Dich in einen Frosch verwandeln?«, schlägt Lenne kichernd vor.
»Mach das lieber mit Herrn Paul«, sagt Karim. »Dann fällt die Schule aus.«
»Was können wir denn tun, Karim?«, fragt Lenne, als sie am Nachmittag am Zaun stehen, wo sie Erin begegnet sind. »Angenommen, dass Rinnie da irgendwo ist, irgendwo auf der Hexenheide, wie können wir ihr dann helfen?«
Karim klettert auf den Zaun. »Weißt du, ich hab nachgedacht … Die Hexen müssen doch irgendwo wohnen, oder?«
»Bestimmt.«
»Sie werden doch da irgendwo ein Haus haben?«
»Erzähl mir bloß nicht, dass du da hingehen willst.«
»Fällt dir was Besseres ein? Das ist bestimmt der Ort, wo sie Rinnie gefangen halten.«
Lenne zupft nachdenklich ein Fetzchen Haut von ihrer Lippe. »Wenn ich jetzt nur so tun würde, als ginge ich mit Alba mit? Und sobald ich dann dort bin … irgendwo … mache ich mich auf die Suche nach Rinnie?«
»Bist du total bekloppt? Du hast selbst gesagt, dass du nicht widerstehen kannst, wenn Alba dich ruft. Der grausige Zirkus mit ihren Augen! Das hast du bei der Wassermühle selbst gesagt! Du wärst wie ein Schaf hinter ihr hergelaufen. Das waren deine eigenen Worte. Nein, Lenne, wenn du erst einmal mit ihr gegangen bist, dann bist du genauso ausweglos gefangen wie Rinnie.«
»Und wenn ich vorher übe mit der …«
»Mit was?«
Lenne holt die grüne Kugel aus ihrer Jackentasche und betrachtet sie. »Wer weiß schon, was ich alles damit machen kann.«
»Bilde dir bloß nichts ein«, meint Karim. »Alba wird dir doch nicht einfach so ein Ding geben, wenn du damit plötzlich über jede Menge Kräfte verfügst. Sie passt schon auf. Sie braucht dich, hab ich sie sagen hören. Setz dir nur nichts in den Kopf, Lenne. Versprich mir, dass du nichts Dummes machst!«
»Nur, wenn du mir dasselbe versprichst, Karim«, gibt Lenne zurück. »Du gehst nicht alleine auf die Suche nach einem Hexenhaus auf der Heide, Karim!«
»Nein … nein, in Ordnung.« Er weiß, dass das nicht so ganz überzeugend klingt, und sieht, wie ihn Lenne misstrauisch ansieht. »Nicht alleine, auf keinen Fall«, fügt er dann aufrichtiger hinzu. »Noch ein Tag, und dann haben wir eine ganze Woche Herbstferien – massenhaft Zeit, um auf die Suche zu gehen.«
Lenne zieht die Augenbrauen zu einem missbilligenden Stirnrunzeln zusammen.
»Ich meine in der Bücherei«, sagt Karim schnell. »Na ja, auch schon auf der Heide. Vielleicht kriege ich meine Eltern dazu, mal mit mir dort spazieren zu gehen. Ganz einfach spazieren gehen. Und dabei gucke ich mich gut um.«
»Meine Mutter will in den Herbstferien wegfahren«, murmelt Lenne. »Irgendwohin. Und dazu hab ich nun überhaupt keine Lust.«
Karim wird munter. »Mensch, vielleicht ist das gerade gut! Dann bist du zumindest weit weg und in Sicherheit. Und ich kann inzwischen die Dinge etwas genauer unter die Lupe nehmen.«
»Ohne dass ich dabei bin? Ich will die Dinge auch unter die Lupe nehmen.«
»Ich erzähle dir doch alles, was ich entdeckt habe, wenn du wieder zurück bist.« Karim findet das gar keine so schlechte Idee. Es würde ihn ganz schön erleichtern, wenn Lenne ein Stück weiter weg wäre, irgendwo, wo die Hexen sie nicht erreichen können. Er ist ganz erschöpft davon, immer auf sie aufpassen zu müssen. Er hat den Eindruck, dass er für einen Jungen von elf Jahren eine ziemlich schwere Aufgabe übernommen hat. Er fühlt sich verantwortlich. Jedenfalls nach dem Gespräch mit Erin. Nachts kriegt er fast kein Auge mehr zu. Und tagsüber versucht er ständig, Lenne im Auge zu behalten. »Wann fahrt ihr?«
»Nicht vor Montag. Am kommenden Wochenende haben meine Eltern so ein paar Feiern, auf die sie gehen müssen.«
Also nur noch drei Tage, denkt Karim bei sich. So lange hält er wohl noch durch.
Lenne klettert hoch und setzt sich mit dem Rücken zur Heide neben ihn auf den Zaun. Geistesabwesend spielt sie mit der Glaskugel in ihren Händen. Sie nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und sieht hindurch. Dann lässt sie sie vorsichtig los. Die grüne Glaskugel bleibt einfach in der Luft hängen.
Karim schaut mit gemischten Gefühlen zu. Er findet es großartig, verwunderlich, bezaubernd und zugleich unheimlich und ein Vorzeichen von etwas noch viel Seltsameren, das ganz bestimmt noch kommen wird. Er traut sich nicht, den Mund aufzumachen, weil er befürchtet, Lennes Konzentration zu stören. Wenn er
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