Hexenheide
plötzlich etwas zu ihr sagen würde, würde die Kugel möglicherweise auf dem Asphalt zersplittern, denn immerhin ist sie ja aus Glas.
Lenne hält ihre Hand unter die grüne Murmel. Sie zwinkert, die Kugel fällt ihr auf die Handfläche. Sie schließt die Finger darum und murmelt etwas, das Karim nicht versteht. Dann lässt sie sie erneut in der Luft hängen.
Nervös blickt sich Karim nach der Heide um. Wer weiß, ob dieses Ding nicht so etwas ist wie sein Medaillon, und vielleicht ruft Lenne damit, ohne es zu wissen, die Frau mit den weißen Haaren herbei. Gleich würde sie hinter ihnen stehen, aber das sollten sie nicht abwarten! »Lenne, hör jetzt auf.«
»Warum? Es ist gerade so schön.«
Die Sonne scheint auf die grüne Glaskugel, und Karim sieht wieder die grünen Strahlen. Hier sind sie weniger gut zu erkennen als in Lennes Zimmer, in dem es nicht so hell war. Im vollen Tageslicht erscheinen sie nur als blasse Streifen. »Lass uns doch wenigstens reingehen«, sagt Karim. »Ob zu mir oder zu dir, ist mir egal, aber mach das bitte nicht hier draußen.«
»Auch okay«, brummt Lenne, »aber gehen wir zu dir, bei mir ist niemand zu Hause.« Sie lacht Karim etwas mitleidig an. »Bei dir zu Hause ist es bestimmt sicherer mit deinem Vater am Küchentisch.«
»Du darfst sie ihm aber nicht zeigen.«
»Hör mal, ich bin doch nicht schwachsinnig.« Lenne steckt die Kugel wieder weg und rennt zu seiner Haustür.
Karims Vater hat sie schon kommen sehen. »Hallo Lenne!«, ruft er erfreut, als er die Tür öffnet, »kommst du zum Teetrinken?«
Karim, der gerade selbst die Tür aufmachen wollte und den Schlüssel schon in der Hand hat, steckt ihn wieder ein und seufzt. Wenn sein Vater dabei ist, können sie sich erst mal nicht weiter unterhalten.
Der setzt sofort Wasser auf. »Du trinkst bestimmt wieder diese ekelige Cola«, sagt er zu seinem Sohn. Dann wendet er sich an Lenne. »Karim weiß nicht, was gut ist.« Er gibt ein bisschen frische Minze in die Teekanne.
Lenne hat sich inzwischen ganz gemütlich am Küchentisch niedergelassen.
Na ja, denkt Karim, vielleicht braucht sie mal kurz etwas Normales, Alltägliches. Mal eine halbe Stunde keine Hexenkünste. Er setzt sich neben sie und schaut aus dem Fenster, da hat er plötzlich eine schlaue Idee. »Papa«, sagt er und setzt sich etwas aufrechter hin, »weißt du, ob es irgendwelche Häuser gibt, da draußen?« Er deutet mit der einen Hand in Richtung Hexenheide. »Du joggst doch da immer wieder.«
»Ich laufe auch schon mal über die Heide, ja. Warum?«
»Nur so. Wohnen da Leute auf der Heide?«
»Nicht dass ich wüsste.« Karims Vater macht ein verwundertes Gesicht und schüttelt den Kopf.
»Aber hast du da mal Häuser gesehen?«, bohrt Karim weiter.
»Mal überlegen … ja, da stehen wohl ein paar kleine Gebäude. Da gibt es eine Holzhütte für einen Waldwächter, oder wie ihr das nennt, einen Aufseher. Da sehe ich nie jemanden. Ich glaube, das ist ein Treffpunkt für Führungen oder so was.« Karims Vater gießt das kochende Wasser über die Minze, kommt mit der vollen Kanne an den Tisch und setzt sich hin. »Und da ist ein Schafstall, auch aus Holz, aber sehr groß. Dazu gehört ein echter Schäfer mit einer Schafherde. Es ist ein schöner Anblick, wenn sie draußen sind. Sie halten die Heide in gutem Zustand, ist mir erzählt worden. Sie fressen das Gras und andere junge Pflanzen ab, die man nicht haben will, wodurch die Heide so bleibt, wie sie ist. Ohne die Schafe würde sie zu Grasland oder Wald oder so werden, das weiß ich auch nicht so ganz genau.«
Er will noch mehr über die Heide erzählen, aber Karim fragt ungeduldig dazwischen.
»Aber das meine ich alles nicht. Ich will wissen, ob da auch Menschen in richtigen Häusern wohnen.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe zumindest nie … aber warte mal …«
Karims Augen werden groß und erwartungsvoll. »Ja? Was?«
»Ich erinnere mich, dass ich einmal an einem Tor vorbeigekommen bin. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, wozu das um Himmels willen gut sein soll, wozu es wohl gehörte. Ich habe ein paar Mauerteile gesehen, dunkel und alt. Und dazwischen das wackelige Tor. Alles war von Efeu überwuchert. Es liegt ein bisschen geschützt zwischen ein paar Bäumen, mitten in so einer Ansammlung von dunklen Tannen, du weißt schon, wie es immer mal wieder so Wäldchen auf der Heide gibt.«
»Sollen wir mal einen Spaziergang dahin machen?«, schlägt Karim sofort vor. »Nächste
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