Hexenheide
Füßen schleicht Karim die Treppe hinunter. Er geht in die Küche, deren Hintertür zum Garten führt. Durch das Fenster guckt er nach draußen. Lennes Garten grenzt nicht direkt an ihr Grundstück, dazwischen liegt noch eine Wiese. Doch wenn er vielleicht seine Wange an die Scheibe drückt und versucht, so weit wie möglich nach links zu schauen? Nein, er kann Lennes Garten nicht sehen. Der Schlüssel der Hintertür hängt an einem Nagel. Karim nimmt ihn ab, steckt den Schlüssel behutsam ins Schloss und dreht ihn um. Mit der anderen Hand greift er die Klinke und drückt sie ganz langsam runter. Ein kalter Windstoß weht ihm um die Ohren. Karim dreht sich um und geht langsam in den Flur, wo seine Jacke hängt. Zurück in der Küche, zieht er ein Paar Gummistiefel seines Vaters an, die auf der Matte stehen. Sein Vater trägt sie, wenn er im Garten arbeitet, und dementsprechend hängen auch noch ordentlich Erdklumpen dran. In Jacke und Stiefeln geht Karim in die dunkle Nacht hinaus.
»Ich bin ja wohl nicht ganz dicht«, sagt er zu sich selbst. »Wenn man mitten in der Nacht glaubt, ein Geräusch zu hören, dann geht man doch nicht nachsehen! Dann kriecht man einfach ein bisschen tiefer unter die sichere Bettdecke! Aber Lenne …«
Karim tastet sich Schritt für Schritt durch den Garten. Nicht das Törchen aufmachen, denn das quietscht. Einfach nur drüberklettern.
Gebückt, sich so klein wie möglich machend, rennt Karim über die Wiese zwischen den Gärten. Bei Lennes Garten angekommen, steigt er über die niedrige Mauer und kniet sich hinter einen Baumstamm. Von hier aus kann er die Rückseite von Lennes Haus gut überblicken. Er sieht nach oben. Zum Glück ist Lennes Fenster geschlossen. Karim seufzt erleichtert auf.
Dann hört er plötzlich leise flüsternde Stimmen.
Karim macht den Rücken krumm und zieht seine Beine – die in einer viel zu auffälligen gelben Schlafanzughose stecken – so weit wie möglich unter sich.
»Ich will das nicht! Warum? Warum ist das nötig? Ist eines nicht mehr als genug?«
»Nein.«
»Aber wenn dann Vita … du weißt, dass sie … Du kannst das Kind nicht vor Vita beschützen!«
»Natürlich kann ich das. Vita hört immer auf mich.«
»Oh, denkst du? Da irrst du dich aber gewaltig.«
»Erin, geh mir jetzt aus dem Weg!«
»Nein, ich will das nicht. Ich bin damit nicht mehr einverstanden.«
Ein paar Sekunden lang bleibt es still.
»Erin!«, erklingt es nun wieder ungeduldig. »Lass das!«
Karim hört Geräusche, die auf eine leichte Rangelei schließen lassen.
»Geh weg!«
»Nein.«
»Du bist langweilig.«
»Das macht nichts. Ich werde alles tun, um dich daran zu hindern.«
»Erin … wir brauchen sie!«
»Das stimmt nicht. Alba, bitte, lass uns noch mal darüber reden. Das Mädchen ist noch nicht zwölf, sie ist das einzige Kind ihrer Eltern … Das kannst du einfach nicht machen.«
Dieses Mal bleibt es länger still.
»Weinst du?«, hört Karim dann eine verwunderte Stimme fragen. »Meine Güte, Erin, nach mehr als vierhundert Jahren … immer noch traurig?«
»Ich habe meinen Vater geliebt.«
»Der Kerl hat nichts getaugt.«
»Und doch habe ich ihn geliebt! Und er mich. Er ist vor Kummer gestorben, nachdem ich verschwunden war, das sagt doch wohl alles, oder? Hättest besser meinen Bruder für seine Untat bestraft! Ich weiß genau, dass mein Vater nicht damit einverstanden gewesen wäre, wenn er erfahren hätte, wie Joannis dich behandelt hat. Der war schon immer ein elender Schuft. Schon als Kind war er ein Quälgeist und hat andere schikaniert. Er hat auf anderen rumgehackt, gelogen und gepiesackt. Er hat die Katze, die Hunde und die Hühner gequält. Ich habe ihn verflucht!«
Karim hört jemanden seufzen. »Na gut, Erin. Wir gehen jetzt wieder zurück. Ich werde noch einmal darüber nachdenken. Aber ich fürchte, dass ich keine andere Lösung finden werde. Du etwa?«
Es bleibt still.
»Weißt du von einem anderen Mädchen hier in der Umgebung, das ihren Platz einnehmen könnte?«
»Willst du etwa, dass ich willkürlich ein Kind aus dem Dorf aussuche, damit es sein Leben für uns gibt? Alba! Du müsstest mich eigentlich besser kennen.«
Karim ballt die Fäuste. Seine Beine zittern wegen der ungewohnten Haltung, in der er da sitzt. Die Stimmen entfernen sich, werden leiser. Ganz vorsichtig versucht Karim, tief Luft zu holen. Sie gehen weg! Gott sei Dank gehen sie weg. Er hätte es nicht viel länger ausgehalten, mit verkrampften Beinen hier hinter
Weitere Kostenlose Bücher