Hexenheide
dem alten Apfelbaum zu hocken.
Karim zieht sich die Bettdecke bis ans Kinn. Ihm wird einfach nicht mehr richtig warm. Mit einem dicken Pullover über seinem Schlafanzug liegt er zitternd im Bett.
Alba zufolge war eines nicht genug. Karim hat mit eigenen Ohren gehört, wie sie das sagte. Rinnie! Sie haben Rinnie mitgenommen. Was haben sie mit ihr gemacht? Ob sie noch am Leben ist? Herr Paul hatte etwas von einem Hexensabbat gesagt. Wann feiern die grausigen Hexen solche Feste? Karim erinnert sich daran, was Marit über Halloween, Allerseelen und Allerheiligen erzählt hat. War für die Hexen vielleicht einer von diesen Tagen ein besonderes Datum? »Da kommen die Geister und Hexen und andere grauenvolle Gestalten aus ihren Ecken und Winkeln gekrochen«, hatte Lennes Mutter gesagt. Dabei hatte sie gelacht. Aber vielleicht war es für einige gar nicht so lustig …
Noch etwas mehr als zwei Wochen, dann ist Halloween, am 31. Oktober. Wenn Rinnie noch lebt, dann haben wir vielleicht noch Zeit, sie zu befreien! Wir müssen etwas tun! Aber wer ist wir, und was müssen wir tun. »Ich«, sagt Karim leise. »Ich muss etwas tun. Vielleicht kann Ermelinde … Erin mir helfen.«
Am nächsten Tag sitzt Karim ganz blass in der Schule. Müde gähnt er sich durch die Stunden. In der vergangenen Nacht hat er fast gar nicht mehr geschlafen. Während der langen und öden Mathestunde nickt er immer wieder ein.
Nach der Schule kommt ihm Jesse, ein Klassenkamerad, hinterhergelaufen. »He, Karim, hast du Lust zu spielen?«
»Huwaas?«, gähnt Karim zur Antwort.
»Wollen wir irgendwas Schönes zusammen machen?«
Karim wirft einen Blick auf Lennes Rücken, der weiter voraus immer kleiner wird.
»Bei mir?«, fragt Jesse. »Oder bei dir?«
»Hm … gehen wir zu mir«, sagt Karim schnell und geht rasch hinter Lenne her. Diese Dreckshexen! Sie bestimmen sein ganzes Leben! Er wäre lieber mit Jesse gegangen, denn Jesse hat tolles Spielzeug, einen superschnellen Computer, und er kriegt bei Jesse zu Hause immer Chips und Kekse. Aber Karim muss auf Lenne aufpassen, er kann sie nicht allein nach Hause gehen lassen.
»Mann, was gehst du so schell!« Jesse lacht. »Hast du es eilig?«
»Ja, mir … ist kalt«, antwortet Karim. Wie er es schon erwartet hat, läuft Lenne geradewegs auf die Stelle zu, wo der Stacheldraht heruntergetreten ist, und steigt zielbewusst darüber. Voller Panik schaut Karim sich um. Diesmal ist keine Erin da, um sie zurückzuhalten. »Gehen wir da lang? Das ist kürzer.«
»Ist mir egal«, sagt Jesse.
»Eigentlich haben unsere Eltern uns das verboten, aber Lenne und ich gehen immer so.«
»Ihr beiden lauft doch sonst immer zusammen. Warum geht sie denn jetzt ganz alleine? Habt ihr Streit?«
»Ein bisschen«, murmelt Karim. Er steigt über den Stacheldraht und läuft mit großen Schritten hinter Lenne her.
Lenne hat schon längst gemerkt, dass sie hinter ihr herkommen, mehrmals schon hat sie über die Schulter zu den Jungen zurückschaut. Jetzt verschwindet sie gerade im Birkenwald.
Karim legt einen Sprint ein.
»Warte!«, ruft Jesse. »Spielen wir Fangen? Hättest du mal früher sagen sollen!« Und plötzlich rast er wie ein Hase auf und davon. Jesse ist beinahe einen Kopf größer als Karim und hat lange Beine. Außerdem spielt er seit Jahren Fußball. In weniger als einer halben Minute hat er Lenne eingefangen und bringt sie zum Stolpern. Lachend geht er auch selbst mit ausgestreckten Beinen zu Boden. »Und jetzt?«, fragt er Karim, als der ihn eingeholt hat.
»V erdammt noch mal, lass mich los!«, zischt Lenne.
»Der Kitzeltod«, keucht Karim. Er hält es für das Beste, weiter so zu tun, als wäre das ein Spiel.
Aber Lenne reißt sich los.
Als Karim sieht, dass sie die richtige Richtung einschlägt, beschließt er, es gut sein zu lassen.
Mit steif vor der Brust verschränkten Armen und einem bösen Gesicht stiefelt Lenne nach Hause.
Als Jesse und Karim zum Zaun kommen, sieht Karim zu seiner Erleichterung, dass das Auto von Marit gerade die Straße entlanggefahren kommt.
»Hallo, Lenne«, ruft Marit beim Aussteigen. »Heute bin ich mal schön früh nach Hause gekommen.«
Stur geht Lenne an ihr vorbei. Bevor sie um die Ecke zur Küchentür abbiegt, wirft sie Karim noch einen vernichtenden Blick zu. Karim spürt, wie er starr bis auf die Knochen wird. Mit solchen Augen müsste sie eine sehr erfolgreiche Hexe werden, denkt er zitternd.
15
Karim hat Lenne einen Brief
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