Hexenheide
hoch.
»Mach das bloß nicht«, meckert Lenne. »Gleich wird hier alles nass.«
»Ach, komm schon, schnell mal gucken, bin ja gleich fertig.«
Ärgerlich dreht sich Lenne zu ihm um. »Hauptsache, du wischst es dann auf.«
Karim drückt das Fenster noch etwas höher. »Es regnet gar nicht rein.« Er beugt sich ein bisschen nach draußen.
Lenne stapft auf die Treppe zu. »Mensch, du nervst mich.«
»Lenne …«
Lenne geht weiter und dreht sich dann um, um die wackelige Dachbodentreppe hinunterzusteigen.
»Lenne …«
»Ja, was ist denn jetzt schon wieder?« Sie wirft Karim einen unwilligen Blick zu und sieht, wie er einen Schritt nach hinten macht, weg vom Fenster. Irgendetwas an seiner Haltung macht ihr Angst, die hochgezogenen Schultern, die Art, wie er nervös an der Pumpe herumfingert, die er immer noch in der Hand hält.
»Hintertür zugemacht?«
Lenne spürt, wie ihr kalt wird. »Die Hintertür? Zu? Meinst du abgeschlossen?«
Karim nickt stumm.
»N-nein. Warum?«
Karim hat seine Stimme wiedergefunden. »Da ist jemand …«
Lenne schluckt. Sie schluckt noch einmal. Es fühlt sich an, als würde ihr etwas in der Kehle stecken. Sie räuspert sich.
»Da steht jemand im Garten«, flüstert Karim. »Ich kann es nicht so gut sehen, die Zweige vom Apfelbaum sind dazwischen.«
»Aber woher weißt du dann, dass …?«
»Ich sehe die Füße!« Karims Stimme überschlägt sich. »Und ein bisschen von einem Kleid oder so. Ich kann nur ein bisschen was sehen von … von …« Von wem? Wer ist es, der sich da unter dem Apfelbaum versteckt? Aus einem plötzlichen Impuls heraus lässt er die Pumpe aus der Hand fallen. »Bleib hier!«, raunt er Lenne zu, schiebt sie von der Treppe weg und drückt sich an ihr vorbei. Beinahe wäre er auf der schmalen Treppe gestolpert. »Ich schließ ab!«, ruft er zu ihr hoch. »Du bleibst da!«
»Was!«, schreit Lenne, »bist du denn total …« Doch Karim, der beim Hochgehen gesehen hat, wie es funktioniert, schiebt einfach die Leiter nach oben. Jetzt sitzt Lenne fest.
»Aber ich kann die Klappe von hier aus nicht aufmachen!«, hört er gedämpft ihre Stimme.
Karim antwortet nicht, dafür hat er jetzt keine Zeit. Er rennt die Treppe zum Erdgeschoss runter und dann zur Küchentür, wobei er über die eigenen Füße stolpert.
»Mist!«, denkt Karim laut. »Lenne hat die Schlüssel natürlich noch in ihrer Hosentasche!« Doch er läuft weiter. Auf seinen Socken – weil er seine Schuhe beim Reinkommen ordentlich auf die Matte gestellt hat – durchquert er schlitternd und rutschend die große Küche. Auf einem so glatten Holzboden ist es unmöglich zu bremsen, und mit einem Bums prallt er gegen die Hintertür. Lenne hatte sie einen Spalt offen gelassen, aber nun knallt sie zu.
Durch die Fensterscheibe, an der die Regentropfen niederrieseln, sieht Karim eine Gestalt in einem langen Gewand näher kommen. »Lenne ist nicht da!«, schreit er. »Sie ist nicht da, sag ich! Geh weg!«
Die Frau bleibt stehen.
Trotz der Regentropfen, die das Bild verzerren, kann Karim nun die langen weißen Haare erkennen. Dann sieht er aus den Augenwinkeln gleich links neben sich etwas auf einem kleinen Tisch liegen. Die Schlüssel! Lenne hat sie da hingelegt! Karim schnappt sie sich und schließt die Tür ab. »So!«, schreit er triumphierend. Aber sie ist doch eine Hexe, denkt er dann. Kann ein einfaches Türschloss eine Hexe aufhalten?
Die Frau kommt noch näher – bis dicht vor die Küchentür.
Karim weicht einen Schritt zurück. Er denkt daran, was Lenne ihm über Albas Augen erzählt hat, wie sie damit hypnotisieren, benebeln, rufen kann. Kann sie das auch bei ihm? Ziemlich sicher, warum denn nicht? Aber durch die verregnete Scheibe kann er ihre Augen nicht gut sehen. Und wenn er nicht in ihre Augen schauen kann und sie nicht in seine, dann funktioniert es vielleicht nicht. »Da ist eine Scheibe dazwischen«, sagt er sich selbst beruhigend. »Da ist eine Fensterscheibe dazwischen. Sie kann nicht zu mir kommen, da ist Glas dazwischen. Karims Atem lässt die Scheibe beschlagen. Nun sieht er sie nicht mehr deutlich, sie ist zu einem Fleck geworden. »Ha!«, ruft er stolz. Er ist froh, dass er Lenne eingeschlossen hat, denn er weiß nicht, ob sie der Macht der Hexe auf der anderen Seite der Tür hätte widerstehen können.
Das Medaillon, denkt er plötzlich. Er trägt es auch heute unter seinen Kleidern. Mit seiner rechten Hand umfasst er das kühle Metall und kneift die Augen fest zu. Soll
Weitere Kostenlose Bücher