Hexenheide
wahrzusagen«, knurrt er.
»Nein, dafür ist mehr nötig als eine Glaskugel.«
»Woher weißt du das denn?« Karim lacht.
Lenne lässt die Kugel auf ihrer Hand hin und her rollen, und ihr Kopf bewegt sich langsam mit.
Karim sieht ihrer Schaukelei eine Weile zu. »Hallo, bist du noch da?«
»Hm, was?« Lenne steht auf. »He, du kannst doch von deinem Fenster auf die Hexenheide gucken!« Sie geht zum Vorhang und schiebt ihn ein bisschen zur Seite. »Hast du von hier aus die Augen gesehen?«
»Ja. Und die brauche ich nicht noch einmal zu sehen. Zieh den Vorhang schnell wieder zu.«
»Da irgendwo ist sie … irgendwo da auf der Heide sind sie, die Hexen …« Lenne drückt ihre Nase gegen die Fensterscheibe.
»Lenne, jetzt komm schon.« Karim schlüpft ungeduldig unter seine Bettdecke und zieht sie bis unters Kinn hoch. »Also ich weiß ja nicht, was du machst, aber ich jedenfalls schlafe jetzt. Es ist beinahe zwölf Uhr.«
»Lampen«, murmelt Lenne. »Lichter.«
»Das war nur eine«, brummt Karim. »Ich hab eine Lampe gesehen, neulich abends, eine Lampe, die …«
»Es sind drei«, unterbricht ihn Lenne.
»Nein, es war … Was meinst du mit, es sind drei?« Karim hebt den Kopf vom Kissen, dann schiebt er die Bettdecke weg und steht auf.
Lenne steht am Fenster. Die grüne Kugel hat sie auf die Fensterbank gelegt, wo sie nur wenige Sekunden liegen bleibt, bevor sie sich einen Zentimeter über das Holz erhebt. Lenne legt ihre beiden Hände gegen das kühle Fensterglas.
Karim ballt die Fäuste. Er muss sich schrecklich zusammennehmen, um die schwebende Kugel nicht wegzugrapschen. Das Scheißding. Dieser unheimliche Zirkus hat ihm gerade noch gefehlt! Er schließt seine Hand um das Medaillon und geht zu Lenne. Sie hat recht, es gleiten drei Lichter über die Heide, stille Irrlichter im Dunkeln.
Karim wartet ab. Was wird Lenne tun? Muss er in Aktion treten, muss er etwas unternehmen?
Aber es passiert nichts. Lenne steht nur da und guckt und guckt mit einem ganz sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht.
Vorsichtig beugt sich Karim an Lenne vorbei und zieht mit einem plötzlichen Ruck den Vorhang wieder zu.
Erschrocken dreht Lenne sich zu ihm um.
»Komm«, sagt Karim weich und nimmt sie am Arm. »Es ist Zeit zum Schlafen. Gib mir das grüne Ding wieder. Ich will es nicht wegschmeißen, ich heb es nur für dich auf. Wir sind hier sicher, das Fenster ist zu. Und morgen sehen wir dann weiter.«
Aber am nächsten Morgen, als Karim wach wird, hat Lenne es bereits geschafft, die Kugel unter seinem Kissen hervorzuangeln. Es ist ihm ein Rätsel, wie sie das geschafft hat, ohne ihn zu wecken. An ihren nassen Haaren sieht Karim, dass sie schon geduscht hat, und angezogen ist sie auch schon. Bäuchlings liegt sie auf der Luftmatratze und rollt die Kugel zwischen ihren Händen über den Boden hin und her.
»Du wirkst richtig süchtig«, schnauzt Karim unfreundlicher als beabsichtigt. Er steht auf und schnuppert. Ein verführerischer Duft nach gebratenen Eiern steigt ihm in die Nase. »He, Lenne, riechst du das? Mensch, was hab ich für einen Hunger!«, versucht er, sich locker zu geben. Beiläufig zieht er hinter sich die Vorhänge auf. »Hm, es sieht heute ein bisschen regnerisch aus«, plaudert er vor sich hin, während sein Blick die Heide nach irgendwelchen sonderbaren Dingen absucht. Nichts Besonderes zu sehen, stellt er erleichtert fest. »Na, dann gehe ich jetzt auch mal schnell duschen. Aber du kannst ruhig schon nach unten gehen.«
»Nein, ich warte hier«, murmelt Lenne.
Normalerweise mag es Karim ausgesprochen gern, lange unter der warmen Dusche zu stehen. Doch heute Morgen duscht er kürzer, als er es sonst getan hätte. Lenne wird doch das Fenster zu gelassen haben? Lenne wird doch mit ihrer Kugel nichts Dummes anstellen? Lenne wird doch wohl die Finger von dem Medaillon lassen? Hab ich es einfach auf meinem Nachttisch liegen lassen? Innerhalb von zehn Minuten steht er wieder in seinem Zimmer.
»Alles in Ordnung?«, fragt er ganz beiläufig.
»Bei mir schon«, antwortet Lenne gleichgültig.
Karim zieht sich schnell an. »Gehen wir nach unten und frühstücken? Es riecht gut.«
Lenne steht auf und kommt lustlos hinter Karim her.
Karims Eltern haben sich Mühe gegeben und einen festlichen Sonntagsfrühstückstisch gedeckt, und das scheint Lenne zum Glück ein bisschen aufzumuntern. Sie isst ordentlich von ihrem Rührei und trinkt zwei große Becher Milch. »Du musst ordentlich essen, Karim«, spornt sie
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