Hexenheide
nach den Gitterstäben. In dem Augenblick, als ihre Finger sie berühren, läutet die kupferne Glocke, die an der Mauer hängt, laut und entsetzlich. BING! Karim springt einen halben Meter in die Luft.
»Karim, was machst du denn!« Lenne ist erschrocken.
»Ich hab nichts gemacht!«
Lenne starrt die Glocke mit offenem Mund an. Die Schnur, die unten heraushängt, schwingt noch ein bisschen hin und her. Zögernd streckt sie die Hand wieder aus, und mit der Spitze ihres Zeigefingers berührt sie das Tor noch einmal ganz sacht. Zinnng , flüstert die Glocke weich.
Aus reiner Nervosität gibt Karim Lenne einen Klaps. »Jetzt hör schon auf, du blöde Kuh!«
»T oll!«, sagt Lenne voller Bewunderung. »Einfach irre, eine Glocke, die sich selber läutet, wenn Besuch kommt!«
»Ja, und jetzt wissen sie, dass wir hier stehen, Dumpfbacke!«
Inzwischen ist Karims Vater dazugekommen. »Leute!«, ruft er ermahnend, »fummelt ihr da an der Glocke rum? Hört bloß auf damit. Womöglich wohnt hier noch jemand.«
Ganz bestimmt, denkt Karim.
»Darf ich schnell mal gucken gehen?«, fragt Lenne Karims Vater und setzt dabei ihr schönstes Lächeln auf.
»Also das würde ich jetzt nicht machen, Lenne, das geht doch nicht so einfach«, ist die unsichere Antwort. Er schaut sich um. »Ach, na ja, ein kleines Stückchen kannst du mal in den Garten gehen«, sagt er dann und zuckt mit den Schultern. »Hinter dem Tor wird wohl kaum mehr als eine alte Ruine liegen. Die Mauern hier sehen auch schon so aus, als stünden sie kurz vorm Umfallen.«
»Aber Papa!« Karim tut so, als wäre er fassungslos. »Das kann man doch nicht machen, einfach so in den Garten von jemandem reingehen!«
»Glaubst du denn, dass das noch der Garten von irgendjemandem ist?«, fragt sein Vater und lacht. »Dann bestimmt der von einer bösen alten Hexe.«
Karim kriegt vor Schreck einen Schluckauf. Er will noch etwas sagen, doch Lenne hat sich schon zwischen den Stäben durchgeschlängelt.
»Aber hör mal, nicht zu lange wegbleiben«, sagt Karims Vater. »Schließlich warte ich hier.«
»Nein, du musst mitkommen!«, sagt Karim.
»Na, Mensch, ich passe doch da gar nicht durch.«
»Wenn du die Jacke ausziehst, vielleicht doch!«
»Karim, jetzt mach schon. Ich warte hier auf euch.«
Mit aufsteigender Panik blickt Karim von seinem Vater zu Lenne, die schon ein Stück in den dunklen Garten hineingegangen ist. »Aber …« Er will hinter Lenne her, er muss sie beschützen, aber noch lieber würde er sie zurückhalten. Er will nicht in den Garten, er möchte hier auf der sicheren Seite des Tors bleiben. Wenn er trotzdem in den Garten hineinmuss, dann aber doch ganz bestimmt nicht allein. Sein Vater muss einfach mitkommen. Aber was soll er ihm denn sagen? Etwa: Ich traue mich nicht, allein zu einem Hexenhaus zu gehen? »Aber Papa, wenn da nun doch noch Leute wohnen …«
»Bestimmt nicht.«
Lenne geht langsam weiter.
»Aber Papa, vielleicht, ähm … vielleicht haben die einen unheimlichen Hund oder so!«
»Dann kommst du ganz schnell zurückgerannt. Also gehst du jetzt oder nicht?«
Ja, er geht. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig.
18
»Das ist jetzt aber weit genug«, versucht es Karim. »Lass uns umkehren, komm.« Als er sich umsieht, kann er das Tor noch sehen, und wenn er nun schreien würde, würde sein Vater ihn noch hören.
»Nein, jetzt will ich das Haus sehen«, antwortet Lenne eigensinnig. »Wo wir schon mal hier sind, will ich es auch sehen.«
Da schlängelt sich so etwas wie ein Weg zwischen den dunklen Tannen hindurch. Ein Schlammweg voller Pfützen und Löcher.
»Sieh mal«, sagt Lenne plötzlich und bleibt stehen. »Eine Katze!«
Neben dem Weg liegt ein rechteckiger grauer Stein, und auf ihm sitzt eine Katze mit leuchtend grünen Augen, die sie regungslos anstarrt.
»Ich hab gedacht, dass Hexen immer schwarze Katzen hätten«, murmelt Karim. »Aber die hier ist rot.«
»Sie ist schön!«, meint Lenne. »Ob die sich wohl streicheln lässt? Was meinst du?« Mit kleinen langsamen Schritten geht Lenne auf sie zu. Die Katze bleibt ruhig sitzen. Lenne streckt die Hand aus und krault die Katze unterm Kinn.
»Da steht was auf dem Stein«, bemerkt Karim. »Da ist was eingemeißelt. Ein Kreis oder so was.« Er beugt sich vor und besieht sich das seltsame Zeichen von Nahem. Er fährt mit dem Finger die tiefe Einkerbung nach. »Kannst du erkennen, was das sein soll?«
»Nichts!«, sagt Lenne und zuckt mit den
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