Hexenkind
Entwicklungsstufe eines Kleinkindes zurückbleiben würde. Eine vollkommene Heilung war ausgeschlossen, aber durch viel Mühe, Liebe, Training und Übung konnte man eventuell kleine Fortschritte erzielen.
»Seit das alles passiert ist, kann ich keine Nacht mehr schlafen«, sagte Sarahs Mutter Regine am Telefon. »Es ist so schrecklich, Kind, wie hältst du das nur aus?«
»Gar nicht, Mama. Vor allem, weil das alles nicht passiert wäre, wenn wir nicht telefoniert hätten.«
Regines Stimme wurde schrill. »Willst du damit sagen, ich bin schuld, nur weil ich dich angerufen habe?«
»Seit ich in Italien bin, sind unsere Telefonate doch mehr als unerfreulich. Du rufst nicht an, weil du mich sprechen willst oder wissen willst, wie es mir geht, sondern weil
irgendjemand Geburtstag hat und du dich verpflichtet fühlst …«
»Was soll das denn jetzt?« Ihre Mutter verschluckte sich fast.
»Wenn ich gesagt hätte: ›Mama, ich kann jetzt nicht‹, wärst du beleidigt gewesen. Also hab ich es nicht gesagt. Also ist passiert, was passiert ist.«
»Ich hab es nur gut gemeint! Ich konnte ja nicht ahnen, dass du keine Zeit hast!«, schrie ihre Mutter. »Es ist eine Unverschämtheit, wie du versuchst, mir alles in die Schuhe zu schieben!« Sie brach in Tränen aus und legte auf.
Danke, Mama, dachte Sarah bitter. Danke für deine Liebe und dein Verständnis.
Als Edi nach Hause kam, war er ein völlig anderes Kind. Seine Vitalität war einer Lethargie und seine Neugier einer völligen Teilnahmslosigkeit gewichen. Er saß brav in seinem Stühlchen, forderte nicht, schrie nicht und interessierte sich herzlich wenig für seine Umwelt. Wenn ein gefüllter Löffel auf ihn zukam, sperrte er gehorsam den Mund auf wie ein kleiner Vogel und schluckte alles. Er verweigerte sich nicht, er aß so lange, wie man ihn fütterte. Sarah erkundigte sich ganz genau, welche Nahrungsmengen sein kleiner Körper brauchte und bat Teresa, ihm nicht mehr als vorgeschrieben zu geben, aber Teresa hielt sich nicht daran, sie wusste sowieso alles besser.
»Wenn er den Mund aufmacht und wenn er isst, dann hat er auch Hunger«, sagte sie streng. »Er weiß schon, wie viel gut für ihn ist. Kinder, die keinen Hunger mehr haben, essen nicht, sie spucken alles wieder aus oder pressen ihre Lippen so fest aufeinander, dass man kein Blatt
Papier mehr hindurchschieben kann, geschweige denn einen Löffel.«
»Gesunde Kinder vielleicht«, konterte Sarah. »Aber Edi ist krank. Wann kapierst du das endlich? Er kennt keine Grenze, er hat keine Kontrolle mehr über seinen Körper, vielleicht hat er auch einige seiner Instinkte verloren.«
»Sciocchezze!«, sagte Teresa abfällig, was so viel hieß wie »Papperlapapp.«
»Warum bist du an seinem Geburtstag, als es passierte, eigentlich nicht die paar Minuten bei ihm geblieben, als ich ans Telefon musste? War dir dein dämlicher Pilzauflauf wichtiger als dein kleiner Enkel?«
»Willst du etwa damit sagen, dass ich schuld bin?«
»Ich hab dich gefragt, warum du die paar Minuten nicht auf Edi aufgepasst hast, verdammt noch mal! Du hast mich doch selbst ans Telefon gerufen! Du wusstest doch, dass ich einen Moment nicht aufpassen konnte!«
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass du so lange telefonierst!«
»Es waren nur ein paar Minuten!«
»Warum hast du nicht später zurückgerufen? Du wusstest, dass ich keine Zeit habe!«
»War dir dein Scheißauflauf also wichtiger als dein Enkel?«
»War dir dein Telefonat wichtiger als dein Sohn?«
»Was bist du nur für ein Mensch, Teresa?«
»Was bist du nur für eine Mutter, Sarah?«
»Das verzeihe ich dir nie!«, murmelte Sarah.
»Ich werde für dich beten«, meinte Teresa gütig, ging aus dem Zimmer und schmiss die Tür hinter sich zu.
Obwohl Teresa Wert darauf legte, immer in Frieden mit sich, der Welt und vor allem mit Enzo an ihrer Seite niemals im Streit einzuschlafen, konnte sie es sich an diesem Abend doch nicht verkneifen, ihm Vorwürfe zu machen. Dass Sarah der Meinung war, sie hätte statt auf ihren Pilzauflauf lieber auf Edi aufpassen sollen, nagte an ihrer Seele, und sie hatte das Gefühl, besser schlafen zu können, wenn sie einen weiteren Schuldigen fand.
»Ich weiß nicht, wie oft wir darüber geredet haben und wie oft ich dich darum gebeten habe, diesen Schlammtümpel zuzuschütten. X-mal hast du mir versprochen, es endlich zu tun. Und was hast du gemacht? Nichts. Hättest du einmal auf mich gehört, dann wäre Edi jetzt noch gesund und
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