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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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versuchte, was er nicht verstand, seinen Vater, der stundenlang mit ihm spielte, aber auch seine Schwester, die ihn immer piesackte.
     
    Auch Elsa dachte oft an den Morgen von Edis Unfall. Manchmal überlegte sie, dass sie eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müsste. Aber nur eigentlich.
    Sie war zu dem Zeitpunkt, als es geschah, bei Teresa in der Küche gewesen und naschte Waffelteig. Als das Telefon klingelte, wollte sie hinrennen, aber Teresa hielt sie zurück. »Laß mal«, sagte sie, »ich geh schon ran.« Teresa wollte immer wissen, wer anrief. Immer. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen, wenn sie irgendetwas nicht erfuhr, nicht mitbekam
oder verpasste. Teresa hob also ab, sagte: »Subito. Un attimo, per favore«, rief dann Sarah im Garten und kam zurück in die Küche. Wenig später hörte Elsa, dass ihre Mutter im Flur zum Telefon lief. Ohne Edi.
    Sie konnte nicht jedes Wort verstehen, das ihre Mutter sagte, aber das war ihr auch nicht so furchtbar wichtig, denn so wie ihre Mutter sprach, redete sie mit der Oma aus Deutschland. Da war sie immer kurz angebunden und sofort gereizt.
    Auf jeden Fall wusste Elsa, dass Edi allein draußen war. Sie hatte durchs Küchenfenster auch gesehen, dass er von der Decke aufgestanden und zum Teich gelaufen war. Sie hätte jede Menge Zeit gehabt, ihm hinterherzulaufen. Aber Teresa blieb in der Küche und knetete ihren Teig. Also war sie auch geblieben, stand wie angenagelt neben ihrer Oma und hatte ein verdammt ungutes Gefühl im Bauch.
    Erst als ihre Mutter schrie, lief sie nach draußen.
    Als dann ihre Mutter, ihr Vater, ihr Opa …, als alle bei Edi im Krankenhaus waren und sie mit ihrer Oma allein war, drückte ihr Teresa tausendfünfhundert Lire in die Hand und bat sie, in der Kirche für ihren armen Bruder drei Kerzen zu spenden und für ihn zu beten. Sie selbst saß am Küchentisch und weinte. Elsa war die ganze Situation unheimlich. Denn sie hatte ihre Oma noch nie weinen sehen, noch dazu ohne Rosenkranz in der Hand, was Elsa überhaupt nicht verstehen konnte. Gerade jetzt wäre es doch sicher nötig gewesen, für Edi einen oder sogar mehrere Rosenkränze zu beten.
    Die Kirche war leer. Das passte Elsa gut. Sie nahm drei Kerzen aus der Kiste, die am Opferstock angebracht war, steckte sie auf die Kerzenhalter und zündete sie an.

    »Lieber Gott, bitte mach, dass mein Bruder wieder gesund wird«, betete sie pflichtgemäß. »Es tut mir so furchtbar leid, aber ich hab immer gedacht, Babys können automatisch schwimmen und ganz lange die Luft anhalten.«
    Dann lief sie aus der Kirche und zum kleinen Alimentariladen der alten Franca und kaufte sich für die tausendfünfhundert Lire Schlangen, Gummiteufel und weiße Gummimäuse zum Lutschen. Für so viel Geld bekam sie eine ganze Tüte voll.
    Und während sie unter einer dicken Zeder hinter dem Castelletto saß und die Gummitiere kaute, war sie vollkommen davon überzeugt, dass sie sich nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen hatte.

Toskana 1998 – sieben Jahre vor Sarahs Tod
    40
    »Hast du einen Moment Zeit?«, fragte Enzo. »Ich würde dir gern etwas zeigen.«
    Sarah fegte gerade die Terrasse der Trattoria und hielt überrascht inne.
    »Ja, klar. Wieso, wofür?«
    »Kann ich so schlecht erklären. Komm mit. Es dauert nicht lange, eine Stunde vielleicht.«
    Sarah nickte und stellte den Besen zur Seite. »Ich zieh mir nur schnell was über.«
    Sie lief ins Haus und sah auf die Uhr. Kurz nach halb neun. Elsa war auf dem Weg zum Schulbus, und Edi schlief noch.
    Sarah öffnete die Küchentür. Teresa stand an der Spüle und wusch das Frühstücksgeschirr ab. »Ich fahr mal kurz weg, Teresa. Enzo will mir was zeigen. Kochst du Edi seinen Haferschleim, wenn er wach wird?«
    »Was will Enzo dir denn zeigen?«
    »Keine Ahnung. Kümmerst du dich um Edi?«
    »Ja, ja, das mach ich, aber was will er dir denn zeigen?«
    »Ich – weiß – es – nicht! Ciao, Teresa.«
    Sarah nahm ihre Jacke vom Haken, lief aus dem Haus und kletterte zu Enzo in den Pick-up-Jeep, der gut fünfundzwanzig Jahre alt war, aber problemlos ansprang.

    Es war einer der ersten schönen Frühlingstage in diesem Jahr. Der Himmel war ungewöhnlich blau, aber die Luft immer noch klirrend kalt. Nur in der prallen Sonne wurde es bereits angenehm warm. Seit Edis Unfall vor acht Jahren konnte sich Sarah an keinen unbeschwerten Tag mehr erinnern. Aber das schöne Wetter an diesem Morgen ließ sie frei und tief durchatmen.
    Sie fuhren auf dem Waldweg in

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