Hexenkind
zurück.
Als Romano und Enzo um halb eins nach Montefiera zurückkehrten, erwartete sie kein Geburtstagsimbiss, sondern eine verweinte Teresa, die von der kleinen Elsa getröstet wurde.
Teresa war kaum in der Lage zu sprechen. Nur bruchstückhaft konnten Romano und Enzo ihren Erzählungen entnehmen, was geschehen war, sie konnte noch nicht einmal klar und deutlich darüber Auskunft geben, ob Edi lebte oder nicht. Enzo hatte Lust, sie zu schütteln und gegen die Wand zu schlagen, um ihr die Hysterie aus dem Leib zu prügeln, aber er beherrschte sich, blieb stumm und sagte zu Romano nur: »Lass uns schnell fahren. Im Krankenhaus werden wir alles erfahren.«
Sarah hatte beschlossen nicht zu lügen. Während Edi auf der Intensivstation um sein Leben kämpfte, war sie nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn sich eine Lügengeschichte zurechtzulegen, die sie vielleicht von ihrer Schuld reinwaschen und sie entschuldigen würde. Sie saß wie versteinert auf einem hölzernen, in der Wand fest verschraubten Stuhl und starrte auf ein Plakat, auf dem vor dem Rauchen gewarnt wurde. »Vuoi smettere di fumare?« stand da. »Tuo medico ti aiuta«. Immer wieder las sie wie stumpfsinnig diese Worte, ohne sie wirklich zu verstehen. Dann sprach sie sie auf Deutsch vor sich hin: »Willst du aufhören zu rauchen? Dein Arzt hilft dir.« Aber sie begriff nicht, was sie da sagte. Ihr Kopf war so leer, wie der lange weiße Flur, auf dem nur ab
und zu eine Schwester vorbeihuschte, ohne Notiz von ihr zu nehmen.
Ich bin gar nicht da, dachte Sarah, es ist gar nichts passiert, es ist alles in Ordnung. Gleich hat der Albtraum ein Ende.
Sie wollte Romano alles sagen, alles haarklein berichten, alles, an das sie sich erinnern konnte. Sie war nicht allein schuld, alle waren ein bisschen daran schuld. Vielleicht sah er es ein, vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er sie verlassen, aus seinem Haus werfen. Sie würde sich nicht wehren, sie würde nicht betteln und nicht weinen. Sie würde einfach gehen und nach Hause fahren und zu ihren Eltern sagen: Ich bin wieder da. Es ist alles kaputt, und Edi ist tot. Seid ihr nun zufrieden?
Sie fixierte das große rot-weiße Schild, das über einer Milchglastür hing. »Terapia intensiva/Reanimazione« stand darauf.
Was hat er gesehen, als er starb, überlegte sie. Engel? Wolken?
Immer wieder las sie das Schild über der Tür. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren, dachte sie.
Sie hatte das Gefühl, dass Ewigkeiten vergangen waren, als Romano und Enzo den Flur entlangkamen. Sie gingen sehr langsam, als fürchteten sie sich beide vor dem, was sie erwartete.
Als Romano auf sie zukam, stand sie auf und sah ihm in die Augen. Ihr Gesicht glühte vor Scham und Angst. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so verdammt leid, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen.«
Sie erwartete, dass Romano sie jetzt schlagen, anschreien
oder mit Verachtung strafen würde, aber nichts davon geschah.
Er sah aus dem Klinikfenster über sanfte Hügel, Wälder und Weinberge, strich ihr übers Haar und schwieg.
Fünf Tage, nachdem der Unfall geschehen und Edi immer noch im Krankenhaus war, sagte Romano eines Abends im Schlafzimmer zu Sarah: »Ich weiß, dass du nie etwas tun würdest, was Edi schaden könnte. Es gibt nichts, was du mit Absicht getan hast. Ich will mir nicht den Kopf zermartern, wie alles abgelaufen und wie manches zu verhindern gewesen wäre … Es ist geschehen. Und da du es nicht wolltest, hast du auch keine Schuld. Manche Dinge passieren eben. Aber ich hätte das Segelboot nicht kaufen dürfen! Niemals hätte ich einem so kleinen Kind ein Boot schenken dürfen, ich dummer Hund! Es hat mir gefallen, darum hab ich es gekauft. Ich hab es für mich gekauft, Sarah! Ich wollte mit ihm und dem Boot spielen! Ich bin schuld! Ohne Boot wäre er niemals in den Teich gefallen!«
Er schlug die Hände vors Gesicht, und Sarah ging zu ihm und nahm ihn in den Arm.
38
Die Ärzte retteten Edis Leben. Aber kurze Zeit war er klinisch tot gewesen, und niemand konnte genau sagen, wie lange. Auch Sarah hatte keine Ahnung, wie lange ihr Telefonat mit ihrer Mutter wirklich gedauert hatte. Ein paar Minuten war Edis Gehirn nicht mehr durchblutet worden. Einige Bereiche waren unwiederbringlich abgestorben. Die Ärzte machten Romano und Sarah klar, dass ihr Kind geistig behindert sein und sein ganzes Leben lang auf der
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