Hexenkind
Kinderbüchern mittlerweile überhaupt nichts mehr anfangen. Im Moment las sie mit wachsender Begeisterung die »Sagen des klassischen Altertums«.
Romano und Sarah hatten Edi ein Segelboot gekauft, das batteriebetrieben im Wasser kleine Kreise drehen konnte.
Als Edi zusammen mit Romano und Sarah ins Wohnzimmer seiner Großeltern kam, stürzte er sich mit einem
Aufschrei der Begeisterung auf den riesigen Bären, riss ihn vom Tisch, drückte ihn fest an sich und bedeckte ihn immer und immer wieder mit Küssen.
Ein derartig heftiger Gefühlsausbruch überraschte alle. Edi sah und hörte nichts mehr um ihn herum, beachtete die anderen Geschenke nicht und wollte noch nicht mal von der Geburtstagstorte kosten. Er hatte nur noch Augen für seinen Bären, zog sich mit ihm in eine Zimmerecke zurück und flüsterte ihm ins Ohr.
»Ich halte es ja für ein bisschen verfrüht, ihm ein Boot zu schenken«, konnte sich Teresa nicht verkneifen zu Sarah zu sagen, »aber dieser Bär, der gefällt ihm. Der ist genau richtig. Als Oma weiß man eben, worüber sich so ein kleines Kind freut.«
»Und als Mutter weiß man, wie fett und ungesund so eine Cremetorte ist«, konterte Sarah.
Teresa verstummte beleidigt.
Zum Abendessen hatten Teresa und Enzo mehrere Nachbarn, Freunde und Verwandte eingeladen. Unmittelbar nach dem Frühstück kümmerte sich Teresa um die Vorbereitungen des Fünf-Gänge-Menüs und begann auch schon den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Elsa half ihrer Oma, sie liebte es, den Nudelteig zu kneten, die Tomatensoße zu rühren und immer wieder zu kosten.
Enzo und Romano fuhren in den Ort. Sie hatten Gianluca, einem Nachbarn, versprochen, ihm beim Binden der geschnittenen Erika zu helfen und die schweren Ballen hinterher auf den Anhänger zu laden, versprachen aber, gegen zwölf Uhr mittags zu einem kurzen Imbiss zurück zu sein.
Sarah ging mit Edi in den Garten. Sie breitete mehrere
Decken aus, holte extra ein Kissen für den Bären dazu und schleppte auch die übrigen Geschenke hinunter, falls sich Edi irgendwann dafür interessieren sollte.
Eine geschlagene Stunde sah Sarah ihrem Sohn zu, wie er mit dem Bären spielte, dabei fielen ihr fast die Augen zu. Sie langweilte sich furchtbar und hatte nur den einen Wunsch, sich auf der Decke auszustrecken und ein paar Minuten zu schlafen. Als sie sich auf die Seite legte, beschloss Edi, dass es jetzt auch für den Bären Schlafenszeit wäre und legte ihn auf das Kissen.
In diesem Moment erschien Teresa in der Haustür. »Komm mal ans Telefon«, rief sie. »Deine Eltern aus Deutschland!«
Sarah stand auf. »Bleib hier sitzen«, befahl sie Edi. »Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du? Die Mama ist gleich wieder da.«
Teresa stand nicht mehr in der Tür, als Sarah ins Haus rannte. Sie hatte einen Pilzauflauf im Ofen und war in die Küche zurückgegangen.
Sarah rannte in den Flur ans Telefon. Es war ein Apparat mit Wählscheibe, der fest an der Wand angebracht war. Sie riss den Hörer ans Ohr. »Ja?«
»Hallo, Kind«, sagte ihre Mutter. »Wir wollten doch nicht versäumen, dir zum Geburtstag von Eduardo zu gratulieren und dir einen schönen Tag zu wünschen.«
Sarahs Mutter Regine betonte das Wort »Eduardo« auf merkwürdige Art, indem sie das »ar« sehr hoch beinah sang und sie zog das Wort derartig in die Länge, als habe sie klebrigen Kaugummi zwischen den Zähnen. Offenbar gab es für sie nichts Schlimmeres als diesen Namen. »Elsa« hatte sie schon schockiert, aber »Eduardo« setzte dem Ganzen
noch die Krone auf, und zusammen waren die Namen ihrer Enkelkinder einfach nur unerträglich.
»Das ist aber nett von dir«, sagte Sarah.
Seit ihrem Weggang aus Deutschland hatte Sarah nur noch seltenen und unterkühlten Kontakt zu ihren Eltern, sodass sich Sarah vor jedem Telefonat fürchtete. Ihre Mutter rief nur zu Weinachten, Ostern oder Geburtstagen an. Ihren Vater hatte sie seitdem nie wieder gesprochen.
Heute war wieder so ein Tag, an dem sich ihre Mutter verpflichtet fühlte, zu telefonieren.
»Wie geht es euch?«, fragte Sarah und dachte an Edi, der hoffentlich auf der Decke mit seinem Bären schmuste. »Seid ihr gesund? Was macht Papas Herz?«
»Es spinnt«, erwiderte ihre Mutter. »Wie immer. Daran hat sich nichts geändert. Allmählich helfen auch die Tabletten nicht mehr, ich denke, er wird wohl bald einen Herzschrittmacher bekommen. Aber interessiert dich das überhaupt?«
»Sonst hätte ich nicht gefragt.« Sie waren bereits wieder so weit. Selbst
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