Hexenkind
über einen Zeitraum von zwei Minuten brachten sie kein belangloses und annähernd freundliches Gespräch zustande.
»Und bei euch? Alles in Ordnung? Wie geht es Elsa und dem Kleinen?«
»Gut. Sehr gut sogar. Elsa hat fast völlig aufgehört zu schreien. Sie ist glücklich. Aber das hab ich dir ja schon mal erzählt.«
»Na, das freut mich aber.« Regines Ton war scharf, denn sie meinte das Gegenteil. Dass Elsa glücklich war, empfand sie als Kritik an sich selbst. Solange sie bei der Oma in Deutschland in Obhut gewesen war, hatte dieses Kind nur
geschrien. Kaum war es bei diesen Italienern, war es angeblich glücklich. Regine konnte es nicht glauben, es war einfach nur eine Unverschämtheit von Sarah ihrer Mutter gegenüber.
»Mama, es tut mir leid, ich muss Schluss machen, denn Edi sitzt draußen allein im Garten und spielt. Ich muss wieder zu ihm.«
»Schade. Ich dachte, du würdest für deine Mutter wenigstens fünf Minuten Zeit haben! Schließlich telefonieren wir ja selten genug miteinander.«
»Dann ruf mich doch öfter an, Mama. Am besten abends, wenn die Kinder im Bett sind, dann hab ich mehr Zeit. Tschüss, Mama. Und grüß Papa von mir. Ich hoffe, dass es mit seinem Herzen besser wird.«
Ihre Mutter legte auf. Völlig unvermittelt und ohne ein Wort des Abschieds. Sie schaffte es immer, das Gespräch zu drehen oder so abrupt zu beenden, dass Sarah mit einem schlechten Gewissen zurückblieb.
Heute ist Edis Geburtstag, dachte sie und atmete tief durch, heute wird gefeiert, heute lass ich mich nicht ärgern.
Sie ging zurück in den Garten. Edi war nicht mehr da.
37
Der Bär lag immer noch genauso auf dem Kissen wie vor den wenigen Minuten, als sie ins Haus gegangen war. Sarah wusste in diesem Augenblick, dass etwas Schreckliches passiert war. Sie schrie nicht, sie rannte nicht, sie stand wie gelähmt und versuchte zu begreifen, dass die Decke leer und Edi nicht mehr da war. Mit den Augen suchte sie den Garten ab, der ziemlich übersichtlich war, aber Edi war nirgends zu sehen.
Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bis sich die Erstarrung löste und sich in Panik verwandelte. »Edi!«, brüllte sie. »Teresa, komm schnell, Edi ist weg!«
Teresa rührte sich nicht. Wahrscheinlich war sie in der Küche und ließ das Radio oder den Fernseher laufen, dann hörte sie nicht, was draußen geschah.
Sarah rannte schreiend den Garten ab. Bitte lass nichts passiert sein, bitte, bitte lieber Gott, lass nichts passiert sein, das verzeiht Romano mir nie. Sie lief zu einer kleinen Natursteinmauer und sah in die Tiefe. Wenn er die Oliventerrassen hinabgestürzt wäre, müsste sie ihn da unten irgendwo liegen sehen, das Terrain war übersichtlich. Aber da lag kein Edi.
In diesem Augenblick bemerkte Sarah, dass das Segelboot, das Edi bisher keines Blickes gewürdigt hatte, weg war.
Zwischen dem Schuppen und dem Haus war ein ungefähr ein Meter breiter Durchgang. Dahinter lag Enzos und Teresas Gemüsegarten mit Obstbäumen und einem kleinen verschlammten Teich, an dessen Ufer Schilf und wilde Gräser wuchsen. Das Segelboot dümpelte auf dem Wasser.
Der Teich war nicht tief und fiel sanft ab, aber er war zu tief für einen Zweijährigen, der mit dem Kopf voran im Wasser hing und sich nicht mehr bewegte.
Sarah stürzte zum Teich, sprang hinein und hob ihren Sohn aus dem Wasser, der schlaff in ihren Armen lag, das nasse blasse Gesichtchen ganz still, die Augen geschlossen, die Haare voller Schlamm.
»Teresa!«, schrie Sarah so laut sie konnte. Dann legte sie Edi auf die Erde, drückte seinen Brustkorb auf und ab. »Wach auf, mein Spatz, mein liebster Schatz, wach auf!« Sie begann mit einer Mund-zu-Nase-Beatmung.
Elsa kam angerannt. »Sag Oma, sie soll die Ambulanz anrufen«, schrie Sarah. »Edi stirbt! Beeil dich!«
Elsa hatte verstanden und rannte ins Haus. Sekunden später kam Teresa. »Was ist los?«, fragte sie.
»Er lag im Wasser, ruf die Ambulanz, schnell, oder einen Hubschrauber, irgendwas, ich weiß nicht, ob er noch lebt!«
Teresa sagte nichts mehr, sondern rannte ins Haus.
Sarah nahm Edi auf den Arm, klopfte ihm auf den Rücken, drückte immer wieder ihren Mund auf seine winzige Nase und blies ihm ihren Atem in den Körper.
»Atme, Edi, um Himmels willen, du musst atmen!«
Fünfzehn Minuten später kam die Ambulanz mit einem Wagen zur Reanimierung. Edi bekam die bestmögliche medizinische Versorgung, die in seinem Zustand
möglich war, und sie schafften es: Sie holten Edi ins Leben
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