Hexenkind
eine Bank betrat. Und er wusste nicht, was im Augenblick schlimmer war. Sein Heimweh oder die Tatsache, dass er sich in seine Nachbarin verliebt hatte, die vielleicht nie wieder zu ihm rüberkommen und bei ihm schlafen würde.
Romano legte sich noch einmal ins Bett, um seinen Kopf auf ihr Kissen zu legen, in dem vielleicht noch eine winzige Spur ihres Duftes zu finden war.
6
Sarah atmete erleichtert auf. Es war wirklich niemand mehr in der Wohnung, Franky war weg.
Sie kochte Elsa einen Kakao, schmierte ihr eine Nutella-Schnitte und schaltete den Fernseher an. Es lief gerade der Zeichentrickfilm »Wicki und die starken Männer«, der Elsa gefiel. Sie aß mit Appetit, sah gebannt zu und war für ein paar Minuten still.
Sarah rieb sich schnell ein bisschen Make-up in ihr verquollenes Gesicht und begann in Windeseile zu packen. Nur das Wichtigste für Elsa, das in zwei Koffern Platz hatte. Als sie fertig war, ging sie zu ihr, sagte »Feierabend«, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Augenblicklich begann Elsa zu brüllen. Sie hatte es mittlerweile zu einer Lautstärke gebracht, die man so einem kleinen Körper überhaupt nicht zutraute.
»Halt die Klappe und zieh deine Schuhe an«, zischte Sarah. »Wir fahren zu Oma und Opa.« Sie war wütend auf Franky und ließ ihre Wut an Elsa aus. Das war ihr klar, aber sie konnte es nicht ändern. Einen Moment hatte sie beinah ein schlechtes Gewissen, aber als Elsa keine Reaktion zeigte, sondern einfach stur weiterschrie, fand sie ihre Wut durchaus berechtigt. Sie ging zu ihr, riss sie vom Fußboden hoch und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Elsa hörte einen
Augenblick auf zu schreien und zu atmen, sah ihre Mutter entsetzt an und schrie dann weiter. Noch höher, noch schriller und noch lauter als vorher.
Ich halte das nicht aus, dachte Sarah, ich werde verrückt, ich kann dieses Kind nicht mehr ertragen. Irgendwann schlage ich es tot.
Sie holte Elsas Schuhe, zog sie ihr an, drückte den dunkelblauen Klettverschluss so fest zu, wie sie konnte, stopfte ihre kleinen Ärmchen in eine Jacke und versuchte dabei, das Gebrüll zu überhören, was unmöglich war. Sarahs Gesicht war ebenso krebsrot wie Elsas. Elsa strampelte auch noch mit den Beinen. Sarah hatte Lust, Elsas Haare zu packen und ihren Kopf hin und her zu schütteln, bis sie mit dem Gekreische aufhörte.
Dann stand sie auf, schlüpfte in ihre Jeansjacke, schleifte an der einen Hand das brüllende Kind mit sich, hängte sich mit der anderen Hand ihre Handtasche über, griff ihren Schlüsselbund und zog Elsa mit sich aus der Wohnung, die nicht im Traum daran dachte, auch nur einen einzigen Schritt zu machen.
Sarahs roter VW-Kombi stand nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Sie schleppte Elsa wie einen schlaffen Sack über das Pflaster, schloss die Wagentür auf und schob sie auf den Rücksitz. Nur mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihr, sie anzuschnallen, weil sich Elsa grundsätzlich gegen alles wehrte, was mit ihr geschah. Dann ließ sie das Kind im Auto und ging noch einmal ins Haus, um die beiden Koffer zu holen.
Als sie losfuhr, brüllte Elsa wie immer aus Protest, aber das war Sarah egal. Sie hatte sich daran gewöhnt, bei dieser Geräuschkulisse Auto zu fahren.
Elsa war ein fürchterliches Baby gewesen, war nun ein schreckliches Kind und machte Sarah und Franky das Leben schwer. Sie hatte als Kleinkind geschrien, wenn sie die Hosen voll hatte, wenn sie Hunger hatte, und sie schrie bis heute vor Langeweile. In den seltenen Momenten, in denen sie sich freute, kreischte sie ohrenbetäubend, aber vor allem schrie sie vor Wut, wenn ihr irgendetwas nicht passte. Und das war fast ständig der Fall. Als sie älter wurde, begann sie, ihr Wutgeheule mit lautstarken Aktionen noch zu verstärken, indem sie zuerst mit Klappern und Rasseln auf die Umrandung ihres Bettes eindrosch und später mit Besteck auf den Tisch trommelte und jeden Gegenstand, den sie in die Hände bekam, gegen Türen und Schränke, gegen die Wand oder auf den Fußboden schlug, bis der Gegenstand kapitulierte und in tausend Stücke zersprang. Sie versuchte auch mit ihren kleinen Füßen zu stampfen, aber das hatte wenig Erfolg, da Sarah sie nur noch auf Socken herumlaufen ließ.
Sie quietschte vor Vergnügen, wenn das Telefon klingelte, und schrie vor Wut, wenn Sarah den Hörer abnahm und das herrlich laute Schrillen verstummte. Sie fand sehr schnell den Knopf am Fernseher, mit dem man die Lautstärke verstellen konnte und
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