Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Staffelei, Lucia aber stellte sich an eins der offenen Fenster und gab sich, um sich abzulenken, dem Anblick eines turtelnden Taubenpärchens hin. Dann und wann flog ihr Blick dennoch kurz zu Leonardo, der sich von dieser Malstudie nicht trennen wollte, weshalb Lucia lange am Fenster ausharren und gegen die in ihr lauernde Erwartung ankämpfen musste.
Plötzlich trat er zu ihr, legte seinen Arm um ihre Schultern und sagte ihr mit bewegter Stimme: "Endlich, das ist dein Durchbruch. Du hast die befreite Seele dargestellt, den Phönix aus der Asche."
Lucia durchrieselte ein Schauer, doch zu freuen wagte sie sich nicht, da sie noch mit Hinweisen auf Fehler rechnete.
Leonardo aber fuhr, während er seinen Arm wieder von ihren Schultern nahm, im selben Ton fort: "Auch deine bisherigen Bilder waren ausdrucksstark, wenngleich noch immer gehemmt. Erst bei diesem Phönix ist dir der Durchbruch gelungen. Ein beeindruckendes Werk. Gestattest du, dass ich es morgen den anderen vorführe?"
Lucia musste schlucken, ehe sie antworten konnte: "Sofern ich nicht dabei sein muss, gerne."
"No, brauchst du nicht. - Was hältst du davon, dieses Gemälde Alfonso zu schenken, er hätte gewiss seine Freude daran."
Der Vorschlag gefiel ihr: "Si, Leonardo, er wünscht sich schon länger ein Bild von mir, in dem deine Schulung zum Ausdruck kommt."
"Dann ist dies genau das richtige, zumal es ihn an den Wappenvogel der Bellesigni erinnern wird, den Alienor. Pack es gleich morgen ein, damit du es noch vor deiner Abreise hier zur Post bringen kannst. - Nun muss ich mich schon wieder trennen von dir, Briosco und die anderen erwarten mich in der Gießerei zurück."
Er umfasste ihre Oberarme, tippte seine Stirn an ihre und verließ das Labor.
Seit Lucia hier Garzone war, hatte sie heute zum ersten Mal von Leonardo eine Anerkennung für ihre Malübungen erfahren. Zwar verstand sie nicht, was an der heutigen als Durchbruch zu verstehen war, aber wenn ihr Maestro es sagte? - Gleichwie, sie war glücklich darüber.
Bis zur Mittagspause auf der Blockhausterrasse musste Lucia anderntags warten, um das Echo der Artisti und Garzoni auf ihre Malübung zu erfahren. Einhellig alle waren von dem Werk angetan.
"Junge, hast du ein Talent", bescheinigte ihr Antonello, "welche Dynamik steckt in diesem Gemälde!"
"Und mindestens soviel Feinsinn, eine ungewöhnliche Mischung", strich Giovanni heraus, worauf Carlo preisgab:
"Genau das hat ihm vergangenes Jahr bei unserem Künstlerempfang schon dieser junge Michelangelo angemerkt, er hat gesagt, Lukas sprühe vor Seelenkraft, verbunden mit Zartheit."
"Eine ganz ungewöhnliche Mischung", wiederholte Giovanni, und Gina, die in den letzten Wochen zu Carlos Verdruss und Leonardos Belustigung immer aufdringlicher um Lucia herum tänzelte, wisperte: "Wenn ich dieses Gemälde doch nur mal besichtigen könnte."
Jedenfalls waren die Artisti und Garzoni von dem Feuervogel ebenso beeindruckt wie Leonardo, und wenn Lucia nach fast zweijähriger Ausbildung in dieser Bottega diese ersten Anerkennungen auch genoss, wurden sie ihr dennoch bald peinlich, was ihr die anderen anmerkten und sich deshalb zurückhielten. Zumindest mit Worten, ihre Blicke dagegen, vorwiegend die der Gastkünstler, wurden immer nachdenklicher, rätselnder, so, als wollten sie einem Geheimnis auf die Spur kommen. Das verunsicherte Lucia. Sie ahnte ja nicht, dass Bernardino und Giovanni längst die Jungfer in ihr erkannt hatten, Giovanni fast auf Anhieb, Bernardino hatte etwas länger dazu benötigt Und die Gastkünstler bezweifelten heute nicht zum ersten Mal Lukas' Männlichkeit.
"Die Artisti sind nur aufgewühlt von deiner Malweise", erklärte ihr Leonardo, als er anschließend mit ihr das Labor betrat. "Keine Bedenken, Cara mia, das legt sich wieder. Sie haben eben noch immer nicht begriffen, dass es in der Kunst keinen Einheitsstil gibt. Zeit, dass sie das endlich zur Kenntnis nehmen, wenn nicht, dann könnte ich sie in meiner Bottega nicht mehr gebrauchen."
Da Leonardo etwas Zeit erübrigen konnte, setzte er sich mit Lucia in ihre Pausenecke und fuhr dann fort: "In der Kunst fehlt das weibliche Element, deshalb taugt sie nur halb soviel. Vielleicht können wir beide das ja eines Tages ändern."
"Wie denn, Leonardo? Das krankt bei uns Frauen doch schon bei der Ausbildung, welche Bottega nimmt denn eine Studentin an?"
"Ich weiß, Cara. Und hat eine Jungfer das Glück, im Kloster oder privat ausgebildet zu werden, dann kann sie nie zur ausgebildeten Artista
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