Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Lucia auf.
Meister Woiz nahm den Malerauftrag nach den Bedingungen des Bellwillwerkes an, und seine sechs Gesellen wurden nach bereits zwei Tagen hier tätig. Ein erster Lichtblick für das Werk.
Auch Meister Rodder lebte auf, seit nach Ostern in seiner Fabrikation die Geräte wieder ratterten. Das zeigte sich sogar im Herrenhaus bei Tisch, an dem nun auch Frau von Zeno und Herr von Lasbeck ihre Plätze Inne hatten. Hier war er oft ausgesprochen witzig, meist angeregt von dem humorvollen Herrn von Lasbeck, mit dem er sich, Lucia staunte, privat ausgezeichnet verstand. Im Herrenhaus herrschte wieder Leben, nicht nur bei Tisch, auch abends im Aufenthaltsraum, wo oft alle Bewohner beieinander saßen, sich erzählten oder sich mit Karten- und Brettspielen vergnügten.
Lucia hatte sich nun doch durchgerungen, dem Werk täglich etwa zwei Stunden fern zu bleiben, um im Atelier ihren Malübungen nachzugehen. Drei Kartons hatte sie bereits bemalt und sie nebeneinander mit dem Gesicht zur Wand aufgereiht, damit sie über die Darstellungen nicht nachdachte, aber auch Frau von Zeno, die hier ebenfalls häufig an ihrer Staffelei saß, sollte sie nicht sehen. Frau von Zeno, die Vera, und Lucia duzten sich seit Ostern, und zwischen ihnen erwuchs Freundschaft. Lucia hatte ihr erklärt, sie bringe noch keine wirklichen Bilder zustande, sondern nichts als nicht vorzeigbare Studien. Das respektierte Vera und ließ Lucia auch stets alleine, wenn sie mit einer Studie beschäftigt war.
Einmal jedoch hatte sie Lucia für kurze Zeit staunend beobachtet und ihr hinterher gesagt: "Lucia, du malst ja mit beiden Händen, mal mit der rechten und dann wieder mit der linken Hand, wie kann man das nur?"
"Weiß nicht, ist mir nicht aufgefallen, ich muss tief versunken gewesen sein."
Vera, die von ihrem Onkel in Bozen nicht nur zur Kunstglaserin ausgebildet worden war, sondern von ihm auch jahrelang generellen Kunstunterricht erhalten hatte, malte bezaubernd, Lucia bewunderte ihre meist mit Pastellstiften erschaffenen Bilder. Sie wichen im Stil von denen der großen Maler zwar erheblich ab, waren aber ebenso kunstvoll. Wenn Lucia wieder nach Mailand reist, wird sie zwei, drei ihrer Bilder mitnehmen, um sie Leonardo vorzuführen, und Vera wie Lucia waren schon heute auf sein Urteil gespannt.
Heute Früh hatte Lucia den ersten Brief von Leonardo erhalten, hatte ihn in ihrer Freude mehrmals durchgelesen und konnte seitdem an kaum noch etwas anderes denken.
Selbst jetzt noch, als sie sich an ihrer Staffelei auf eine Malstudie vorbereitete, wollte sie dieser Brief nicht loslassen. Diesmal dauerte es weit länger als sonst, bis ihr Kopf endlich klar war. Dann begann sie, sich auf den Begriff 'Entfaltung' zu konzentrieren, immer tiefer. Bis dieser Begriff in ihr lebendig wurde. Ihr Bewusstsein entrückte in eine sonnengleiche Ebene, wo sie dann zeitlos lang verweilte . . .
Als sie schließlich wieder zurückgelangte, bemerkte sie zum ersten Mal, dass sie tatsächlich in jeder Hand einen Pinsel hielt. Noch etwas abgetreten legte sie die Pinsel auf die Arbeitsplatte, und als dann ihr Blick auf den Malkarton fiel, blieb er fasziniert darauf haften. Sie hatte ein Goldgebilde gemalt, eine aufgeblühte Rose, die nach vier Richtungen ausstrahlte, nach oben und unten sowie nach rechts und links. Die Entfaltung einer Goldrose, also der himmlischen Liebe, dachte sie, ermahnte sich jedoch, nicht darüber nachzusinnen, weshalb sie sich erhob und das Bild an die Wand neben die anderen reihte. Dann stockte sie und erkannte - sie hatte das Rosenkreuzersymbol dargestellt. Entsprach das der Entfaltung himmlischer Liebe? - Nicht darüber nachdenken, ermahnte sie sich abermals und trat durch die Terrassentür hinaus in den Hintergarten, um sich abzulenken.
Doch sie konnte sich nicht ablenken, weder im Garten noch später im Kontorhaus, wo sich seit heute Morgen die Männer der Kaufmannszunft wichtig taten. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Leonardos Brief oder jenes Symbol, und da sie wegen ihrer Abgetretenheit Gefahr lief, den Zunfthütern unüberlegte Auskünfte zu erteilen, zog sie sich besser wieder aus dem Kontorhaus zurück.
Draußen schlenderte sie über das Werksgelände mit seinen mächtigen Linden und Eichen und den vielen aufsprießenden Ziersträuchern. Schließlich ließ sie sich in der Nähe ihres seit nunmehr zwei Jahren leer stehenden Elternhauses auf eine Bank nieder und beobachtete von dort aus zwei von Meister Woizes Gesellen, die das
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