Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
jedem lauteren Geräusch zusammengezuckt war. Seine Pflegeeltern mussten ihm übel mitgespielt haben. Doch inzwischen wurde er wieder zu jenem von allen hier verwöhnten und entsprechend keckem Bub, der er vordem gewesen war. Jeder hier wusste, dass Maestro Leonardo ihn lieber heute als morgen adoptieren würde, doch Salais Pflegeeltern legten ihm nichts als Steine in den Weg. Aber zumindest hatte der Maestro erreicht, dass Salai fast täglich in seine Bottega kommen durfte, wo er abwechselnd von ihm, den Künstlern und den Garzoni nicht nur in Kunst, sondern auch in allen Bildungsfächern unterrichtet wurde.
Lucia erzielte bei ihren Malübungen nun endlich kleine Fortschritte - kleine. Sie beschäftigte sich noch immer mit Faltenwürfen, und Bernardino wie auch Giovanni bestätigten ihr, dass die Schattierungen endlich weicher würden. Dennoch ermangelte es ihren Darstellungen nach wie vor an markanten Aspekten. Um dazu erneute Anregungen zu gewinnen, trat sie jetzt in Maestro Leonardos Malecke, wo rechts neben der Tür zum Korridor jenes Gemälde stand, das der Maestro vor zehn Jahren in Florenz begonnen hatte und kürzlich hierher hatte transportieren lassen, um es zu vollenden. Zwar stellte es nur skizzenhaft in Temperafarbe die Anbetung der Heiligen Drei Könige dar, wies aber dennoch da und dort so viel Markantes auf, dass Lucia versuchte, diese Eigenheit zu erfassen, sie in sich selbst zum Leben zu erwecken. Inmitten der heiligen Szene thronte die Madonna mit Kind, umgeben von den anbetenden Königen und anderen sakralen Personen. Rings um diese fromme Gruppe dagegen breitete sich die profane Welt aus, in der sich Menschen tummelten, deren Sinne für das hohe Ereignis noch nicht geöffnet waren. Mit einem Mal blieb Lucias Blick vorne rechts an einer etwas deutlicher ausgearbeiteten Männergestalt haften. Sie erschrak fast, als sie die Gestalt zu erkennen glaubte, sie hielt sie für Maestro Leonardo selbst, allerdings in jüngeren Jahren - seine Figur und sein bereits damals leicht fragender Ausdruck im Gesicht. Teils gehörte er bereits dem heiligen Innenbereich an, wandte sich jedoch, aufmerksam machend, an die Außenwelt, in der er zur Hälfte noch stand. Lucia vertiefte sich in diese Figur und begriff - mit dieser Darstellung hatte er seinen eigenen Stand in der Welt demonstriert, halb war er bereits Wissender, halb noch Suchender und bei alldem bereits Einladender.
"Ich habe unseren Maestro auf diesem Gemälde ebenfalls erkannt", sagte Carlo zu Lucia, als sie nach Feierabend beisammen in Lucias Guter Stube saßen, jeder einen aufgeheizten Backstein auf dem Schoß.
"Unser Maestro muss über mystische Kenntnisse verfügen", wagte Lucia jetzt, Carlo zu offenbaren, "denn ich habe in einigen seiner Werke Symbole entdeckt, die mir mein damaliger Kunstlehrer heimlich in einer Rosenkreuzerschrift vorgeführt und erläutert hat."
Zu ihrem Erstaunen wurde Carlo darauf nervös, er blickte hoch zur Decke, knackte seine Finger, doch dann entschloss er sich, sie ins Vertrauen zu ziehen: "Ich weiß das schon länger, Lukas. Im Sommer habe ich per Zufall herausgefunden, dass unser Maestro wahrscheinlich Mitglied des Rosenkreuzerbundes ist."
Darauf durchzuckte Lucia ein Schreck: "Er soll ein Rosenkreuzer sein? Aber dieser Geheimbund wird doch von den Inquisitoren verfolgt, hier in Italien wahrscheinlich sogar besonders streng."
"Eben deshalb ist er ja geheim, und deshalb darfst du auch kein Wort darüber verlauten lassen, auch nicht bei deinem Onkel."
"Natürlich nicht, ich werde doch unseren Maestro nicht gefährden."
Nun ging Lucia einiges auf, das sie dann aussprach: "Wenn das zutrifft, Carlo, erklärt es mir vieles. Daher seine mystische Malweise, die dem Betrachter ebenso viele Rätsel wie Erkenntnisse liefert, und daher auch sein Hang zur Alchimie, zur Biologie und zur Seelenkunde, was er teilweise in seiner Geheimschrift, die ich inzwischen entziffern kann, zu Papier bringt. Mein damaliger Kunstlehrer hat mir übrigens erklärt, die Rosenkreuzer stünden unter der Obhut eines allweisen Maestros, der sie in den Okkultismus einführt. Demnach hätte unser Maestro einen Lehrmeister, der über noch höheres Wissen verfügt als er. Bei dem Gedanken kann einem schwindeln."
Carlo musste tief durchatmen, bevor er ihr beipflichten konnte: "Si, so hoch hinauf kann unsereiner nicht mehr denken." Nach einer kurzen Besinnungspause entschloss er sich, ihr anzuvertrauen: "Ich will dir noch etwas sagen - während seiner häufigen
Weitere Kostenlose Bücher