Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
spähten neugierig zu ihnen her, vornehmlich zu dem feschen Lukas. Viel Zeit ließ ihnen Anna jedoch nicht dazu, sie drückte ihre Mütze fester auf den Kopf und lief dann zu ihnen.
Bei Lucias und Carlos vielen Unterhaltungen nahm Maestro Leonardo einen erheblichen Platz ein. Wobei Lucia auffiel, dass Carlo kaum noch für ihn schwärmte, ihn zeitweise sogar nüchtern betrachtete.
Das wurde ihr besonders deutlich, als er sich beklagte, dass der Maestro häufig auf dem Papier bis ins Detail ausgearbeitete Bauprojekte dann nicht durchführen ließ. Diese Tatsache traf Carlo umso härter, da ihm dadurch die Praxis in seiner Architekturausbildung abging. Seit eineinhalb Jahren war er Maestro Leonardos Garzone und hatte sich in dieser Zeit erst zweimal beim Erbauen von Palazzi praktische Kenntnisse erwerben können. Lucia redete ihm zu: "Carlo, du studierst bei dem größten Maestro dell`Arte unserer Zeit. Sei nicht ungeduldig, bald wirst du die Marmorgeländer für die neuen Treppen unserer Bottega meißeln. Außerdem, in der Theorie unterweist er dich doch fast täglich."
"Er bringt mir ganz Erstaunliches bei", gab Carlo mit sich aufhellender Miene zu. "Nämlich kaum bekannte Gesetze in der Baukunst sowie Ideenreichtum. Hast schon recht, ich bin da zu ungeduldig. Aber du musst mich auch verstehen, Lukas, ich kann Mutter doch nicht ewig auf der Tasche liegen, im Sommer werde ich immerhin schon neunzehn."
"Ich bitte dich, jeder Student lebt von seinen Eltern."
"Aber jeder Student hat ein dummes Gefühl dabei", hielt er Lucia entgegen. "Du etwa nicht?"
"Bei mir liegen die Dinge anders."
"Bene, Lukas, aber ich als ältester Sohn einer Witwe muss bald mal etwas zur Familienkasse beitragen."
Derartige Gedanken waren Lucia bislang fremd gewesen. Ihr, der Lucia, ihrem Frauenhirn. Wieder musste sie einsehen, dass ihr innerlich zum Mannsein aber auch alles fehlte, denn selbst der homosexuelle Carlo bewies ihr, wie ein wirklicher Mann empfindet und denkt.
Nicht nur Carlo, auch Lucia bedauerte schließlich das Ende ihrer gemeinsamen, immer traulicher gewordenen Ferienzeit, und am Abend vor ihrer Abreise stellte sie in Aussicht: "Vielleicht, Carlo, kann ich es ja doch einrichten, Ostern hier zu verbringen. Jedenfalls werde ich alles daransetzen."
"Oh, Lukas!"
Kapitel 4 • Ab Julmond 1491
Anna selbdritt, Anna, Maria, Jesus
Seit acht Monden wohnte Lucia erst in der da Vinci-Bottega, und doch hatte sie hier nach ihrer zweiwöchigen Abwesenheit das Gefühl umfangen, wieder in ihrem Zuhause eingetroffen zu sein. Da alle Artisti und Garzoni während ihrer Ferien frische Kraft wie auch neue Eindrücke gewonnen hatten, entfaltete sich nun im Malatelier eine Schaffensfreude, wie Lucia sie noch nie erlebt hatte. Auch ohne ihren Maestro, der von seiner Reise noch nicht heimgekehrt war. Sie erinnerte sich an Alphonses Prophezeiung, unter Künstlern werde sie aufblühen, was sich immer deutlicher bewahrheitete, ihr war, als habe sie erst hier wirklich zu leben begonnen.
Trotz Lucias heller Stimmung kratzte es jetzt an ihrem Gewissen, dass sie den anderen den Jüngling vorspielte. Alle hier pflegten solche Offenheit untereinander, nur sie hatte diese Lüge eingebracht und hatte keine Möglichkeit, sie zu korrigieren, war gezwungen, sie aufrecht zu halten, worum sie wahrlich nicht zu beneiden war. Unentwegt musste sie sich ihrer Rolle eingedenk sein, hatte bisweilen Männerarbeiten zu verrichten, musste sich mitunter von den hiesigen Knechten grinsend deftige Witze anhören und, das Schwierigste, sie durfte sich niemals ihre oft unerwartet auftauchenden weiblichen Regungen anmerken lassen.
Doch ihre Jünglingsrolle bot auch Vorzüge, die sie durchaus genoss. So wurde sie bei Einkäufen von Malartikeln nicht mehr wie ein Mädchen, also Dummchen, behandelt, desgleichen bei Gesprächen mit Atelierbesuchern oder mit Kunden, deren Palazzi die hiesigen Künstler mit Ornamenten auszumalen hatten. Außerdem konnte sie nun als Lukas jede öffentliche Einrichtung oder Veranstaltung ohne männliche Begleitung aufsuchen. Dennoch wünschte sie sich nicht selten, wenigstens für kurz wieder Jungfer sein zu können, sich als solche mit einer Gleichaltrigen zu unterhalten oder nur mal ihren überladenen Kopf an eine Männerschulter zu lehnen.
Momentan waren ihr derlei Ambitionen allerdings fremd, sie war von gleicher Hochstimmung erfüllt wie die Künstler und Carlo.
Einzig der kleine Salai hatte die ersten Tage verstört gewirkt, so sehr, dass er bei
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