Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
ereignet?
Am Nachmittag klärte Alphonse Lucia in seiner dämmerigen Hotelsuite darüber auf: Auf seine listige Weise hatte Advokat Schautze seinen Klienten Rodder im vergangenen Frühjahr dazu überredet, Lucia bei der Meraner Gendarmerie als vermisst zu melden. Was bedeutete, dass sie genau ein Jahr danach als verschollen gelten und mithin ihr gesamtes Erbe in ihres Vaters Hände fließen würde - und folglich ein fürstliches Honorar auf Schautzes Bankkonto. Um dies abzusichern, hatte der gewiefte Advokat während der letzten Wochen mehrere Männer aus der Meraner Umgebung mit Geld dazu bewogen, den Gendarmen zu bestätigen, wie verzweifelt Meister Rodder nach seiner Tochter gesucht habe, jedoch vergeblich, er habe keinerlei Lebenszeichen von ihr ausmachen können.
Dann war Alphonse in Meran aufgetaucht, worüber Meister Rodder in helle Wut ausgebrochen war, die Alphonse nur durch die Bemerkung: "Ich reite jetzt in die Töller Schmiede", hatte bremsen können. Seine Wut war noch nicht abgeklungen, als Alphonse ihm mit einer Anzeige gedroht hatte, falls er und seine Gemahlin sich nicht bereit erklärten, Lucia von ihm, Alphonse, adoptieren zu lassen.
Madame Rodder hatte ohne Zögern das vorbereitete Formular unterschrieben, Meister Rodder dagegen hatte über dieses Ansinnen nur gehöhnt, obschon ihm die Angst vor einer Anzeige im Gesicht gestanden hatte. Darauf hatte Alphonse fallen lassen, die Adoption müsse wahrscheinlich in Lucias Geburtsstadt, also in Meran, durchgeführt werden, und da Meister Rodder seine Tochter in Südfrankreich wähnte, hatte er annehmen müssen, bis sie in Meran eintrifft, befinde sich das Erbe längst in seinen Händen. Deshalb hatte dann auch er das Dokument unterschrieben.
Geschickt agiert von Alphonse, erkannte Lucia ihm an. Allerdings hatte er sie, die Hauptperson, dabei übergangen, und er fragte sie nicht mal jetzt, ob sie mit der Adoption einverstanden sei. Darüber war sie nach wie vor verstimmt. Was ihm nicht auffiel, er berichtete eifrig weiter:
Morgen früh werde hier in seiner Suite ein Advokat, Signor Rossi, erscheinen, unterrichtete er Lucia, mit dem sie dann die Adoption beurkunden würden. Für diesen denkwürdigen Akt habe ihm ihre Mutter, der er auf ihre dringliche Bitte einiges von ihr, Lucia, berichtet habe, angemessene Garderobe für sie mitgegeben.
"Deine Frau Maman lässt dich herzlich grüßen, Lucia."
"Danke", brachte sie leise über die Lippen, wobei sie gegen Tränen ankämpfen musste - mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit solcher Fürsorge ihrer Mutter.
Als sie sich wieder gefasst hatte, erkundigte sie sich, ob er ihrer Mutter preisgegeben habe, wo sie sich aufhielt.
"Non, das habe ich nicht für ratsam gehalten. Aber du sollst wissen, dass sie dich vermisst und alles für dich tut, was in ihren Kräften steht."
Wieder musste Lucia schlucken, ihre Auflehnung gegen die Adoption trat in den Hintergrund, sie hing nur noch an Alphonses Lippen, als er fortfuhr: "Im Grunde ist deine Mutter, trotz des Opiums, eine wundervolle Frau, Lucia, und mitunter erkenne ich sogar noch heute das frühere schalkhafte Mädchen in ihr. Du kannst nicht wissen, wie entzückend sie früher war, wie sie immer alle zum Lachen gebracht hat, sowohl in Belleville, wie auch später in Meran, wo ich als Junge ja häufig mit meinen Eltern zu Besuch war. Sie war voller Esprit und hatte die witzigsten Einfälle."
"Ihr zwei sollt als Kinder ja unzertrennlich gewesen sein."
"Stimmt", lachte er, "ohne sie wäre meine Kindheit nur halb so heiter gewesen, was sogar meinen Charakter geprägt hat, bis heute." Sein Gesicht verdüsterte sich abrupt, als er fortfuhr: "Dann das Drama. Bereits nach wenigen Ehejahren begann dein Vater, sie mit zunehmender Eifersucht zu traktieren. Schließlich noch der Tod ihrer beiden kleinen Töchter, worauf sie sich in den Opiumrausch geflüchtet hat. Als man ihr dieses Übel dann deutlicher angemerkt hat, haben sich mehrere Verwandte von ihr abgewandt. Heute bin ich der einzige, der noch vernünftig mit ihr umgehen kann."
"Ja, Alphonse, in deiner Gegenwart ist sie jedesmal ein anderer Mensch geworden, so, als würdest du ihr die gesamte Verwandtschaft, die ihr immer so viel bedeutet hat, ersetzen. Und all dies geht letztlich auf Vaters Konto."
Zu Lucias Überraschung verteidigte er ihn wieder, diesmal sogar energisch: "Non, Lucia, non, so einseitig darfst du das nicht sehen. Dabei haben auch Fakten mitgespielt, von denen du keine Ahnung hast. Dein Vater ist
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